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Erinnerungsspuren

Wo ist unsere emanzipatorische Bildungsvision, wo ist sie geblieben?

1983 zählte ich zu jenen wenigen Pädagogikstudierenden in Graz, die Erwachsenenbildung als Hauptfach gewählt hatten und die erste Lehrveranstaltung von Werner Lenz 1) in Form eines Seminars belegten. Wenig heißt in diesem Fall wirklich wenig, denn wir waren gesamt nur eine Handvoll Studierende.

Mein erster Eindruck von der Erwachsenenbildung war ein Staunen. Über den Zweiten Bildungsweg an die Universität gekommen, hatte ich bis dahin Bildung nur mit einer humanistischen Schulbildung gleichgesetzt, die (v.a. auch mich) ausgrenzte. Selbst in der Abendschule hatte uns der dortige Professor eingebläut: „Ihr werdet nie so gebildet sein, wie jene, die ein humanistisches Gymnasium mit einer ‚echten‘ Matura absolvierten“. Diese Behauptung erzeugte in mir Irritation wie auch Zorn. Hieß das, dass ich trotz Bemühungen nur ein (halb-)gebildeter Mensch werden kann?

Die Auseinandersetzung mit der emanzipatorischen Bildungsidee im Umkreis von Werner Lenz, einer Bildungsidee, die sucht, die ordnet, die Zusammenhänge findet und Orientierung im Denken und Handeln gibt (siehe Lenz 1989), erzeugte in mir nun erstmals Hoffnung und Mut. Die Bildungsarbeit selbst fand für mich in einem Klima der Wertschätzung basierend auf den Erfahrungen und dem Wissen der SeminarteilnehmerInnen statt. Unsere gemeinsame Reflexion war ein lebhafter Diskurs – mit allen Vor- und Nachteilen. Mein Gefühl, nur halb gebildet zu sein, wurde langsam von dem Selbstbewusstsein, dass niemand ungebildet ist, abgelöst.

In diesem Kontext konnten sich Lernen und Bildung entwickeln. Ich erkannte für mich, dass Bildung mehr ist als das Aufnehmen von Fakten und Daten und das Trainieren von Kompetenzen. Das Neue bestand für mich nicht nur in der Auseinandersetzung, dem Reflektieren der gesellschaftlichen und historischen Zusammenhänge in Verbindung mit der eigenen Biografie, sondern auch im Widerstand-Leisten bei politischen gesellschaftlichen Manipulationen und Verschleierungen. Mein Ziel war, meine eigenständige Urteilsfähigkeit (weiter zu) entwickeln. Dabei kam es zeitweise zu Irritationen, besonders was meine traditionelle Frauenrolle betraf.

In den letzten Jahren wurde in der Erwachsenenbildung vieles analysiert und beschrieben, gehandelt im Sinne der emanzipatorischen Bildungsidee wurde aus meiner Sicht aber nur halbherzig. Den Menschen aus unterdrückerischen Verhältnissen herauszuführen, das war die große Bildungsvision der 1970er und1980er Jahre. Sang Joan Boez 1965 das Antikriegslied: „Sag mir, wo die Blumen sind“, so möchte ich heute singen: „Sag mir, wo die emanzipatorische Bildungsvision ist, wo ist sie geblieben, sag mir, wo die emanzipatorische Bildungsvision ist, was ist gescheh’n?“

Immer zu spät und lebenslänglich unmündig, unfertig, unzulänglich?

Steigende TeilnehmerInnenzahlen und Weiterqualifikationsbemühungen für Arbeitslose/Bildungsferne sprechen für eine Zunahme der Bildungsbeteiligung. Dieser liegen die Hoffnung der Menschen zugrunde, symbolisches, kulturelles, soziales Kapital in Form von Bildungstiteln zu erreichen (vgl. Bourdieu 1983, S. 183). Es gibt also gute Gründe, Bildung als eine Art soziale Platzierungschance zu interpretieren und nicht als idealistisches Bedürfnis nach Aufklärung. Gegenüber dem expansiven Schub zwischen 1965 und 1980 entstand ein Umkehreffekt, ein Prozess, den der französische Kultursoziologe Pierre Bourdieu „strukturelle Deklassierung“ (Bourdieu 1988, S. 257) genannt hat. Damit ist durchaus nicht nur die inflationäre Entwertung von Bildungstiteln gemeint. Viel entscheidender ist die systematische Irritation jener Hoffnungen, welche die Bildungsorientierung breiter Bevölkerungsschichten überhaupt erst ermöglicht haben. Aus erhofften sozialen Aufstiegen wird eine bloß fiktive Mobilität im sozialen Raum. Oft hat sich die soziale Position verschlechtert, weil der mühevoll erworbene Bildungstitel nicht einmal „symbolisches Kapital“ verspricht, wie es sich derzeit in der Entwicklung unserer Gesellschaft zeigt. Bildungstitel werden erworben und sind im nächsten Augenblick inflationär.

Die Öffnung des Bildungssystems hat AdressatInnengruppen Zugänge verschafft, die bis dahin strukturell ausgeschlossen waren. Durch die bessere Ausbildung erwarten sich BildungsmigrantInnen auch bessere Plätze in der Gesellschaft. Sozusagen aus den „Sperrsitzen“ in höhere Ränge der Gesellschaft. Die Ordnungen werden durch soziale Transformation in Frage gestellt. Um sie wiederherzustellen, versuchen die Sesshaften der Bildungskultur die Plätze für Bildungsferne wieder knapp zu halten: mehr Qualifikation, mehr berufliche und soziale Kompetenz wird von ihnen verlangt (siehe Schwammer 1999). Für alle jene Gruppen (Frauen, Männer, AusländerInnen, Jugendliche ohne Bildungszertifikate), die bislang als systematisch benachteiligt gerade im Hinblick auf effektive Bildungschancen galten, kann eine Art negative Dialektik der Aufklärung festgestellt werden (vgl. Apitzsch 1993, S. 105). Die Sonne ist für sie nach einem schweren Aufstieg oft schon wieder untergegangen, denn das Gesetz des Zuspätkommens kann nur äußerst schwer durchbrochen werden.

Eine weitere auffällige Veränderung im Bildungswesen ist das enorme Interesse an Bildung seitens der Wirtschaft. Während Adornos günstiges Urteil über Bildung auf der Hoffnung beruht, hier werde es möglich sein, Menschen zur Einsicht ins Wesentliche der gegenwärtigen Gesellschaft zu bringen, ihnen die realen gesellschaftlichen Machtverhältnisse, Abhängigkeiten und Prozesse zu zeigen, denen sie unterworfen sind, so scheint es derzeit, dass sich Bildung den Erfordernissen der Wirtschaft unterwirft. Die heute dominierende Bildungsidee besteht darin, für den Arbeitsmarkt und für die Wirtschaft brauchbar und wettbewerbsfähig zu machen. Das heißt auch, das Trainieren von Kompetenzen in den Vordergrund zu stellen. Verweilen, Zeit zum Nachdenken und Orientieren haben in diesem Konzept keinen festen Platz.

Die Aufklärungsidee wird abgelöst von der Idee, durch Bildung den Menschen nützlicher, berechenbarer, leistungsorientierter, produktiver werden zu lassen. Wer nicht brauchbar ist, muss die Konsequenzen selbst tragen. Das Warum und Wie hat wenig Bedeutung. Wer nicht mitkann, ist selber schuld. „Wer die Fähigkeit, in konkreten und wechselnden Situationen, die eigenen Interessen zu artikulieren und durchzusetzen nicht gelernt hat oder wer die Lektion der lebenslangen Anpassung durch Weiterbildung nicht lernen will, hat die negativen Konsequenzen selbst zu tragen“ (Geißler 1988, S. 57f.). Bildung muss sich rechnen (siehe Schwammer 1999).

Der Wirtschaftspädagoge und Zeitforscher Karlheinz Geißler sieht in der Diskussion um lebenslanges Lernen eine Mischung aus Qualifikationseuphorie und Goldgräberstimmung (vgl. Geißler 1988, S. 73ff.). Die Zeitspanne der Aneignung von institutioneller Bildung hat sich verändert. Sie lässt sich nicht mehr auf bestimmte biographische Phasen eingrenzen, sondern wird zum festen Bestandteil des Lebenslaufs. In diesem Konzept ist der Anspruch auf Reife und Sicherheit, aufs Erwachsensein aufgegeben. „Man ist nie erwachsen, man muss sich ein Leben lang darum bemühen. Wir werden permanent als defizitär (als lernbedürftig) definiert und das heißt: Wir können uns immer seltener als souverän erleben und verstehen“ (ebd., S. 73).

Was haben wir uns gewünscht? Was ist daraus geworden? Und warum?

Die Euphorie, dass Bildung Positives bewirken kann, wird gedämpft, wenn wir die aktuellen Weltgeschehnisse betrachten. Auch wurden die großen Verbrechen der Geschichte meist nicht von Ungebildeten erdacht und formuliert (siehe Burger/Töchterle 2011). Warum sind Diktatoren (meist Männer) oft Abgänger von europäischen Eliteschulen oder Universitäten? Khomeini (Sorbonne), Baschar al-Assad (London), der nordkoreanische Machthaber Kim-Jong il (schweizerisches Internat), um einige zu nennen. Die Liste ist lang. Tatsache ist: Durch Bildung können Kriege nicht verhindert werden, auch scheint es so, als ob Menschen durch Bildung überhaupt nicht menschlicher wurden und es werden. Zweifel wird laut, ob dies überhaupt jemals gelingen wird.

Bildung kann offenbar dem Hass, der Gewalt, der Entsolidarisierung nicht entgegenwirken. Sie macht die Arbeitswelt, so scheint es, nicht menschlicher; sie hilft den Menschen nicht, einander besser zu verstehen. Auch durch engagierte Bildungsarbeit wird der Mensch nicht unbedingt mündiger, und es gelingt auch nur beschränkt, ihn zur Übernahme von Verantwortung gegenüber der Gesellschaft zu bewegen. „In unserem Denken ist kein Funke mehr vom Aufschwung der Begriffe und von den Ekstasen des Verstehens. Wir sind aufgeklärt, wir sind apathisch“, so formulierte Peter Sloterdijk es in seinem bekannten Werk der Kritik der zynischen Vernunft (zit.n. Heisterhagen 2018, S. 5).

Dennoch: In mir regt sich der Widerstand, an der Macht und an dem Wert von Bildung zu zweifeln. Auch wenn mein idealisiertes Bild von Bildung Risse bekommt. Ich bin mir nach wie vor sicher, dass Bildung einen Teil zur Verwirklichung von Demokratie, Humanismus und Zivilisation und Menschlichkeit beitragen kann. Die erste Begegnung und kritische Auseinandersetzung mit der Idee der emanzipatorischen Bildung an der Universität Graz haben in mir ein Feuer entzündet, das bis heute noch nicht verglüht ist. Bildung ist und bleibt die beste Investition in meinem Leben.

Was jetzt?

Im third Age des Lebens angekommen, zweifle ich aber, ob sich die emanzipatorische Bildungsvision, die kritische Vernunft überhaupt umsetzen lässt und die nötige Kraft vorhanden ist. Noch vor 20 Jahren glaubte ich daran, dass Bildung frei macht – ein Satz, der Hoffnung und Zuversicht vermittelte. Derzeit habe ich mehr Fragen als Antworten: Was haben wir, die mit Bildung (mich eingeschlossen) die Gesellschaft nachhaltig gerechter und lebenswerter machen wollten, erreicht? Warum haben wir Bildung zur Ware verkommen lassen, mit der man beträchtlichen Gewinn erzielen kann und auch muss? Warum haben wir die Tür geöffnet für Hoffnungslosigkeit, für Rassismus, Antisemitismus und Herzlosigkeit? Warum haben wir zu wenig Widerstand geleistet?

Um auf die Komplexität von Fragen antworten zu können, bedarf es aus meiner Sicht der immerwährenden Reflexion unserer Unzulänglichkeiten, unserer Ignoranz und unserer Mutlosigkeit. Besonders bedarf es aber auch der Einsicht, dass vor dem Hintergrund der Realität der Steigerung der Lebenserwartung eine Gesellschaft des langen Lebens die ältere Generation mit gesellschaftlichen Aufgaben und Anforderungen konfrontiert und auch konfrontieren soll. Was haben wir uns gewünscht? Was ist daraus geworden? Und warum? Wenigstens, wenn wir am Warum scheitern, sollte die Diskrepanz aufgezeigt werden, um ein Nachdenken, ein Innehalten einzuleiten.

Die ältere Generation hat somit einen verantwortlichen Beitrag zum Gelingen einer nachhaltigen gerechteren Gesellschaft zu leisten. Wir haben die Pflicht, dies zu tun, sei es, dass wir die Gier, in welcher Form auch immer, einschränken oder mit uns ins Gericht gehen, wie wir es uns von unseren Eltern/Großeltern erwarteten. Herzensbildung und die emanzipatorische Bildung sind als Wegweiser und Baustein in einer gerechteren Welt zu sehen. Es bedarf jedoch Mut, Visionen und Ziele umzusetzen und zu leben.

Durch emanzipatorische kritische Bildungsarbeit besteht wenigstens die Chance, die Gesellschaft menschlicher erscheinen zu lassen, die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit zu stärken und Partizipation für sozial Benachteiligte in der Gesellschaft zu ermöglichen. Ich sehe es als Aufgabe, radikaler gesehen, als Pflicht von uns Älteren, die Mechanismen der Ausgrenzungen, der gesellschaftlichen Spaltungsversuche zu durchschauen und die Jugend nicht in die Falle des Hasses, der Hoffnungslosigkeit gehen zu lassen. Nils Heisterhagen schrieb in seinem Buch „Die liberale Illusion“ bezugnehmend auf die belgische Philosophin Chantall Mouffe: „Ich bin des Analysierens etwas satt. Lasst uns für eine bessere Welt kämpfen“ (Heisterhagen 2018, S. 310). Dieser Appell richtet sich auch an uns Ältere.


1) Werner Lenz wurde 1984 Professor für Erziehungswissenschaften mit besonderer Berücksichtigung der Erwachsenenbildung und Leiter der Abteilung für Erwachsenenbildung und Weiterbildung des Instituts für Erziehungs- und Bildungswissenschaften an der Universität Graz. Er gilt damit als Pionier der Erwachsenenbildung in Österreich; Anm.d.Red.

Literatur

Apitzsch, Ursula (1993): Bildung – Transformation oder Deformation des Lebenslaufs. In: : Meier, Artur/Rabe-Kleberg, Ursula (Hrsg.): Weiterbildung, Lebenslauf, sozialer Wandel. Neuwied: Luchterhand, S. 105–115.

Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen, S. 183-198. Online im Internet: http://unirot.blogsport.de/images/bourdieukapital.pdf [Stand: 2020-01-23].

Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bourdieu, Pierre (1988): Homo academicus. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Burger, Rudolf/Töchterle, Karlheinz (2011): Humanistische Bildung immunisiert nicht gegen Barbarei. In „Die Presse“, vom 4.12.2011. Online im Internet: https://www.diepresse.com/714243/humanistische-bildung-immunisiert-nicht-gegen-barbarei [Stand: 2020-01-14].

Geißler, Karlheinz A. (1988): Qualifikation auf Leben und Tod. In: Emile. Zeitschrift für Erziehungskultur 1, Heft 2 Duell.

Heisterhagen, Nils (2018): Die liberale Illusion: Warum wir einen linken Realismus brauchen. Bonn: Dietz.

Kadelbacher, Gerd (Hrsg.) (2013): Theodor W. Adorno. Erziehung zur Mündigkeit – Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Berlin: Suhrkamp.

Lenz, Werner (1989): Emanzipatorische Erwachsenenbildung. Bildung für Arbeit und Demokratie. Versammelte Aufsätze. München: Profil.

Schwammer, Renate (1999): Migration und Bildung (= unveröff. Diss, Graz).


Quelle:

Schwammer, Renate (2020): Wo ist unsere emanzipatorische Bildungsvision, wo ist sie geblieben? Erinnerungsspuren.
In: Magazin erwachsenenbildung.at. Das Fachmedium für Forschung, Praxis und Diskurs. Ausgabe 39, 2020. Wien.
Online im Internet: https://erwachsenenbildung.at/magazin/20-39/meb20-39.pdf.
Druck-Version: Books on Demand GmbH: Norderstedt.
Erschienen unter der Creative Commons Lizenz CC BY 4.0
https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de


Schlagworte zu diesem Beitrag: Weiterbildung, Lebenslanges Lernen
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 27.02.2020

Quelle: www.netzwerk-weiterbildung.info
Druckdatum: 28.03.2024