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„Freizeitfahrten“ in Berufsvorbereitungsmaßnahmen von Arbeitsagenturen und Jobcentern

Pflicht zur Freizeit = Zwangszeit?

Seit Beginn dieses Ausbildungsjahres müssen in den außerbetrieblichen Ausbildungen und Berufsvorbereitungsmaßnahmen der Arbeitsagenturen und Jobcenter gemeinsame Freizeiten mit Übernachtung durchgeführt werden. Sie haben das Ziel das Vertrauensverhältnis zwischen Teilnehmenden und Pädagogen zu verbessern, damit motivationsbedingte Abbrüche verhindert werden. Diese Fahrten sind umstritten. Sie sind es in rechtlicher (siehe Arbeitszeit der Beschäftigten sozialverträglich und rechtssicher gestalten), aber auch in pädagogischer Hinsicht.

Maren Kaltschmidt geht der Frage nach, ob durch zwangsweise verordnete Freizeitfahrten die Motivation der TeilnehmerInnen in Berufsvorbereitungsmaßnahmen ernsthaft gesteigert werden kann.

Es ist sicherlich unbestreitbar, dass sich gemeinsame Unternehmungen positiv auf das Gruppengefühl auswirken können. An Schulen sind sie ein großer Gewinn, denn durch sie können Lehrerinnen und Lehrer Seiten an ihren Schülerinnen und Schülern wahrnehmen, die sich im Unterrichtsalltag nicht zeigen. Auch Schülerinnen und Schüler können ihre Lehrerinnen und Lehrer einmal anders kennenlernen. Gemeinsame Freizeit kann das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden verbessern.

Zwischen Klassenfahrten, wie die meisten von uns sie aus der Schule kennen, und den Fahrten, die in den „Jugendmaßnahmen“ vorgeschrieben sind, gibt es jedoch gravierende Unterschiede, die durch die Rahmenbedingungen verursacht werden:
  1. Die Teilnahme an Klassenfahrten ist für alle Beteiligten freiwillig. Die Teilnahme an den Freizeitfahrten ist für alle Beteiligten Pflicht.
    Wir als pädagogische Mitarbeiter müssen, ob wir die Fahrten für eine gute oder eine schlechte Idee halten, diese Pflicht durchsetzen. Und es sind leider nicht alle Teilnehmenden davon begeistert, drei Tage und zwei Nächte mit uns zu verbringen. In unserer Maßnahme äußerte sich das so: Bereits am ersten Maßnahmetag, gab es Diskussionen darüber, ob jedeR Einzelne mitfahren müsse, oder ob es Ausnahmeregelungen gebe. Etwa zehn Prozent der neuen Teilnehmenden äußerten sofort, dass es ihnen aus diversen – mehr oder weniger überzeugenden – Gründen unmöglich sei, an einer Freizeitfahrt teilzunehmen. Natürlich gibt es Ausnahmeregelungen. Dies entscheiden jedoch nicht wir Pädagogen, sondern die Beratungsfachkräfte, denn wir sind – wie gesagt – vertraglich verpflichtet, die Pflicht zur Teilnahme durchzusetzen. Die meisten jungen Mütter in unserer Maßnahme wurden von der Teilnahme an der Freizeitfahrt befreit. Aber eben nicht alle. Und dann müssen wir der einen jungen Mutter erklären, dass sie mitfahren muss, obwohl sie keine Kinderbetreuungsmöglichkeit hat, während eine andere Mutter, bei der vielleicht noch die Großeltern hätten einspringen können, zuhause bleiben darf. Solche Gespräche heben die Motivation und verbessern das Vertrauensverhältnis ungemein. Und alles nur, weil es in Jobcentern und Agenturen keine einheitlichen Richtlinien für Ausnahmeregelungen gibt.

  2. In Schulen werden die Schülerinnen und Schüler mit zunehmendem Alter mehr und mehr in die Planung ihrer Klassenfahrten einbezogen. Wo soll es hingehen? Was soll dort gemacht werden? Dies kann sich sehr positiv auf die Gruppendynamik, das Selbstwertgefühl, die Motivation und die Freude an der Fahrt auswirken. Darüber hinaus wird die Klassenfahrt so zum pädagogisch begleiteten Bildungsprozess und fördert Selbst- und Mitbestimmungsfähigkeit. Ganz anders bei den Freizeitfahrten im Rahmen der „Jugendmaßnahmen“. Hier muss das Konzept schon zum Ende der Angebotsfrist im April feststehen, während die Teilnehmenden erst im September in die Maßnahme einsteigen. Es ist also gesetzt, wann es wohin geht und was dort gemacht wird. Selbst- und Mitbestimmung werden von Anfang an ausgeschlossen.
Selbstverständlich muss es in Zusammenhang mit den Freizeitfahrten nicht zu Konflikten kommen. Es gibt viele Teilnehmende, die es nicht stört, dass diese Entscheidungen schon getroffen sind und sie „nur noch“ mitmachen müssen. Viele Teilnehmende haben auch Spaß an den Freizeitfahrten und machen dabei sehr positive Erfahrungen.

Wir wissen aber alle: Nicht jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer beginnt in unseren Maßnahmen mit grenzenloser Begeisterung und Dankbarkeit für die sich ihr/ihm bietende Chance. Einige wollen viel lieber etwas anderes machen und sehen sich daran durch die Maßnahme gehindert. Nicht wenige werden in einen Beruf geschickt, den sie eigentlich nicht erlernen wollen, weil da gerade ein Platz frei ist, oder weil Erwachsene meinen, besser zu wissen, was für den jungen Menschen gut ist. Bei diesen Teilnehmenden ist der Beginn der Maßnahme konfliktbehaftet. Sie suchen Bestätigung für ihre negative Einstellung. Und sie finden sie seit diesem Jahr auch in der Verpflichtung, an einer Fahrt teilnehmen zu müssen. Manche haben auch, durch vielfältige negative Erfahrungen geprägt, grundsätzlich Schwierigkeiten damit, Vertrauen zu fassen. Die Verpflichtung, an einer Freizeitmaßnahme teilzunehmen, an der sie vielleicht gar kein Interesse haben, mit Lehrenden, denen sie nicht genug vertrauen, hilft sicherlich nicht, Vertrauen aufzubauen.

Sicherlich mag es uns im Einzelfall gelingen, solche Teilnehmenden zum Mitfahren zu überreden. Und sicherlich können sie dabei sogar positive Erfahrungen machen. Das kann aber nicht die Reibungsverluste ausgleichen, die im Vorfeld der Fahrten entstanden sind. Und diese positiven Erfahren wären vielleicht genauso gut durch eintägige Freizeitangebote im Rahmen der Maßnahme erreichbar, bei denen die Schwelle weniger hoch wäre. In den meisten Fällen läuft es darauf hinaus, dass Teilnehmende sich durch Abwesenheit am Reisetag ihrer Pflicht entziehen (über verschiedene Maßnahmen hinweg sind das immerhin zwischen zehn und 50 Prozent!). Mit anderen Worten: Die Pflicht zu Freizeitfahrten ist nicht zielführend. Gerade diejenigen, auf die die Fahrten abzielen, nehmen gar nicht erst teil und brechen – jetzt erst Recht – frühzeitig die Maßnahme ab. (Fast drängt sich die Vermutung auf, dass genau dies das eigentliche Ziel der Pflicht zur Freizeit ist, denn dadurch können Agenturen und Jobcenter die Kosten für die teuren Plätze sparen und gleichzeitig ihre Hände in Unschuld waschen.) Schlimmer noch, die Pflicht zur Freizeit führt die jahrelangen Bemühungen von Lehrerinnen und Lehrern der allgemeinbildenden Schulen, ihre Schülerinnen und Schüler zu frei handelnden selbstbestimmten, mitbestimmenden, kritikfähigen und solidarischen, kurzum zu mündigen Menschen zu erziehen, ad absurdum.

Aber vielleicht brauchen wir für die Arbeitsmarktdienstleistungen auch ein neues Bildungsverständnis. Schließlich bereiten wir auf das Arbeitsleben vor und die Arbeitgeber erwarten doch vor allem drei Tugenden von ihren Arbeitnehmern: Aushalten, Durchhalten, Maul halten.


Von Maren Kaltschmidt
Sprecherin der AG Weiterbildung im FB 5 von ver.di


Schlagworte zu diesem Beitrag: Ausbildung, Öffentliche Beschäftigungspolitik
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 27.11.2013