Grundsätzliches zur Weiterbildung

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Perspektiven und utopische Potentiale des „Politischen“ in der Erwachsenenbildung

„Arbeitsorientiert-politikbezogene Bildung“ in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit

Krisenlamento

Die Stimmungslage bei den Akteuren und Institutionen der „Politischen Bildung“ hängt in einem Dauertief von Legitimationsdruck und Krisengerede. Von einer „Krise“ der politischen Bildung zu reden, ist also schon lange nicht mehr originell. Das seit fast 2 Jahrzehnten immer wieder konstatierte „Eriwan-Syndrom“ (Faulstich 1995) als Krisensymptom der politischen Bildung ist mittlerweile chronisch geworden: Im Prinzip wird sie immer wichtiger, konkret wird sie immer mehr marginalisiert. Im Resultat ist es modisch geworden, die Krise in ihren verschiedensten Formen – als Finanzkrise, als Produktionskrise oder als Krise des Kapitalismus zu beschwören oder zu bejammern. Die Gefahr besteht in bloßen Lamentismus zu verfallen.

Eine der Krisenformen ist die „Krise des politischen Systems“. Diese Klage ist gegenwärtig zugespitzt im Begriff der Postdemokratie, mit dem der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch ein Gemeinwesen benennt, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, in dem jedoch konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte so stark kontrollieren, dass sie zum reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über skandalisierte Probleme diskutiert, die vorher schon die Experten thematisiert haben (Crouch 2008, 10).

„Postdemokratie“ besagt, dass moderne Demokratien hinter einer Fassade formeller demokratischer Prinzipien zunehmend von kleinen, privilegierten Eliten kontrolliert werden. Die Umsetzung neoliberaler Politik habe zu einer „Kolonisierung“ des Staates durch die Interessen von Unternehmen und Verbänden geführt, so dass wichtige politische Entscheidungen außerhalb der traditionellen demokratischen Kanäle gefällt werden. Der Legitimitätsverlust demokratischer Institutionen zeige sich in einer zunehmenden Entpolitisierung. In einem solchen Kontext wäre politische Bildung endgültig dysfunktional: als Aufruf zu hilflosem Widerstand, der zwangsläufig scheitern muss.

In der Kontroverse geht es um einen engen vs. weiten Politikbegriff bezogen auf das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, um die Reichweiter der Demokratie und ansatzweise um Harmonie oder Konflikt als Legitimationsprinzipien – und selbstverständlich dann auch um den Sinn politischer Bildung. Diese Debatten setzen sich fort. Sie brechen immer dann neu auf, wenn Kürzungen der Finanzen für die politische Bildungsarbeit anstehen.

Immerhin ist aber gegen die fatalistische Diagnose der Postdemokratie ein kritisches Demokratiekonzept formuliert worden, das es ermöglicht, die Hintergrundpositionen präziser zu beleuchten. Auf Jürgen Habermas gehen Prinzipien einer deliberativen Demokratie zurück, die Partizipation in allen Lebensbereichen nicht als vorgegebenes Resultat, sondern als lebendigen Prozess der Abwägung begreifen und öffentliche Diskussion postulieren. Demokratie wäre demnach immer überholbares Zwischenresultat und zugleich nicht einholbare, nichtsdestoweniger unverzichtbare und begründbare Zielidee. Sie ist verankert in der Artikulation von Interessen und der Kommunikation im Diskurs, haben also ein erhebliches Utopiepotential.

Nun ist nicht zu leugnen und z.B. im „Berichtssystem Weiterbildung“ bis 2007 immer wieder ausgewiesen, dass ein Teilnahmeschwund besteht, der sich in einen Nachfragerückgang bei den Trägern umsetzt und sich letztlich in einer Angebotsverminderung niederschlägt. So entsteht ein sich selbstverstärkender Zirkel, der eine Abwärtsspirale auslöst. 2007 haben nach dem Berichtsystem Weiterbildung 43 % der Deutschen im Alter von 19 – 64 Jahren an Weiterbildung teilgenommen. Die Aufschlüsselung nach Themenbereichen nennt lediglich 1% der Teilnahmefälle für „Rechte und Pflichten der Staatsbürger, Wissen über Politik“. Auf alle Fälle ist dies – zwar für einen eng ausgelegten Begriff von Politik – eine katastrophale Situation, jedenfalls kein Erfolgsbeleg.


Problemsyndrome

Die Zahlen legen es sicherlich nahe, jedenfalls wenn man nur die traditionellen Themen politischer Bildung im Auge hat, von einer „Krise“, von der „Regression“, von „Defiziten“ und „Problemen“ oder sogar von einem „Desaster“ zu sprechen.

Die Akteure und Institutionen politischer Jugend- und Erwachsenenbildung reagieren auf die „Krisendiagnose“ oft aus der Defensive und mit Abwehr. Man versucht die Diagnose zu relativieren, indem man darauf hinweist, dass außerschulische politische Bildung immer schon vor Legitimationsfragen und Akzeptanzproblemen stand (Hufer 2001, 8). Dies klingt manchmal wie selbstermutigendes helles Singen im dunklen Wald umgeben von den Gespenstern des Kapitals und der Reaktion. Man bestätigt sich gegenseitig, man sei wichtig. Die größte Gefahr wäre, dass über politische Bildung nur noch die reden, die sie machen.

In der Konsequenz besteht auf alle Fälle eine Verunsicherung in der politischen Bildung. Sie ergibt sich vor allem aus der Diskrepanz zwischen hochgesteckten emanzipatorischen Ansprüchen und der Umsetzung in Kursen und Programmen. Dahinter stehen Entwicklungen, die es zunehmend schwieriger machen, traditionelle Politikdidaktik fortzuführen. Die Probleme sind auf verschiedenen Ebenen vorfindbar:
  • Angesichts sich beschleunigender gesellschaftlicher Umbrüche und Herausforderungen, wobei die Wandelmetapher um zentralen Weiterbildungsimpuls geworden ist;

  • bezogen auf den sich verflüchtigenden Gegenstand von Politik, der nicht mehr institutionell zu fassen ist;

  • verursacht durch eine sich verbreitende „Politikverdrossenheit“, die aber nicht den Bürgern anzulasten ist sondern der Verkommenheit vieler Politiknutznieser;

  • im Blick auf die ungeklärten Annahmen der Bezugswissenschaften sowohl in der Wissenschaft von der Politik als auch für die Erwachsenenbildung, bezogen auf die diffuse und prekäre Situation der Institutionen politischer Erwachsenenbildung – angesichts der Kürzungspolitik des Staates und auch der Träger geraten alle Einrichtungen unter Druck oder werden geschlossen,

  • hinsichtlich der geringen Resonanz bei den Adressaten – die Zahl der Nichtteilnehmenden steigt,

  • angesichts der sich verschiebenden Gewichte von Massenmedien und Erwachsenenbildungsinstitutionen.
    Wir müssen uns angesichts von Krisendiagnosen und Problemsyndromen, die sich im Begriff der „Postdemokratie“ (ebd.) zuspitzen, also auf die Suche begeben nach angemessenen Begriffen von Politik wie von Bildung.

Öffnung zu einem interessen- und konfliktorientierten Politikbegriff

Zunächst zum Politikbegriff: Die breit akzeptierte Einsicht in eine „Entgrenzung“ von Politik hat eine merkwürdige „Ausbreitung“ politischer Bildung bewirkt. Dies gilt zunächst:
  • Thematisch: Politische Bildung hat sich „entgrenzt“, insofern als sie ihren Gegenstand nicht mehr beschränken kann auf Strukturen und Prozesse im politischen System, sondern feststellen muss, dass Entscheidungen über gesellschaftliche Zukünfte in vielfältigen anderen Zusammenhängen getroffen werden.

  • Institutionell: Politische Bildung hat sich entörtlicht, da Politik nicht mehr ausschließlich und nicht mehr vorrangig in Parteien und Parlamenten oder Bürokratien stattfindet, sondern ebenso in sozialen Konstellationen, ökonomischen Institutionen und anderen.

  • Kommunikativ: Politische Bildung hat sich verflüchtigt, weil die Prozesse, in wel¬chen Entscheidungen gefällt werden, immer weniger formalisiert und immer stärker informell stattfinden. Die Parteiendemokratie tendiert zur Mediendemokratie, wenn die Medien nicht mehr nicht mehr der Meinungsbildung dienen, sondern nur noch der Präsentation von Kandidaten.

In Paradoxie zu dem offiziell konstatierten Bedeutungsverlust besteht gleichzeitig eine Omnipräsenz von Politik (Claußen 1989), weil die Grenze zu anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen sich auflöst. Gleichzeitig verliert politische Bildung ihren Fokus. Staatsbezogene Politikdefinitionen sind nicht mehr, jedenfalls keinesfalls als einzig gültige ak¬zeptiert. Die Konzentration auf Parlamente und Regierungen, auf Institutionen und Prozesse, auf Wahlen und Gesetzgebung erweist sich als verengt.

Politik ist in alle Lebensbereiche eingedrungen. – Dies war allerdings auch schon in den fünfziger Jahren Streitpunkt zwischen Theodor Wilhelm, unter dem Pseudonym Oetinger Verfasser der „Partnerschaft“, und dem Staatspreußen Eduard Spranger; ein weiter Politikbegriff war auch Grundlage für den „Weg zum Mitbürger“ von Fritz Borinski (vgl. Faulstich/Zeuner 1999). Mit der Ausbreitung der Demokratie von einer Regierungsform zu einer Lebensform, wie sie auch John Dewey propagiert hat, wächst aber auch die Gefahr, dass sich der Fokus auf Politik, nämlich Interesse und Konflikt, Macht und Herrschaft, Konsens und Legiti¬mation, auflöst.

Nach der Entgrenzungs-, Entörtlichungs- und Verflüchtigungsdiagnose und der Auflösungstendenz ist politische Bildung kaum noch thematisch oder institutionell zu fassen, das heißt bezogen auf angebbare Gegenstandsbereiche oder Institutionen, sondern politische Bildung ist nur noch funktional zu definieren, bezogen auf ge¬sellschaftliche Interessenkonstellationen, Machtverhältnisse und resultierende Konflikte.

Interessenpositionen sind vielfältiger geworden. Zwar bleibt der Klassenbegriff weiter strukturierend. Er hat aber nie ausgereicht, um die Komplexität der Konstellationen zwischen sozialen Gruppen bezogen auf politisches Handeln hinreichend zu erfassen. Daran schließt die Milieudiskussion an.

Die Politisierung des Alltags verschiebt öffentliche Konflikte in das Private der Lebenswelt. Bekannt geworden ist früh der feministische Spruch: „Das Private ist Politisch“. Gesellschaftlich relevante Entscheidungen werden so aber der Öffentlichkeit und demokratischer Kontrolle und Legitimation entzogen.

Politische Entscheidungen konzentrieren sich nicht mehr nur auf die Zentralen der Macht, sondern sind kaum noch fassbar, ausgewandert in die Netze des „Empire“ (Hardt/Negri 2000). Die Macht verteilt sich und wächst zugleich. Hierarchische Herrschaft wird zu einer strukturell verteilten.

Der Politikbegriff würde in dieser Fassung jedoch nicht nur entgrenzt, sondern grenzenlos. Politische Aspekte finden sich in allen gesellschaftlichen Verhältnissen.
Ein angemessener Begriff von Politik dagegen könnte sich rückbesinnen auf einen Kern, nämlich das Prinzip des Herstellens gesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen für die Zukunft auf der Grundlage unterschiedlicher Entwürfe für ein besseres Leben und vor allem auf Formen öffentlicher Austragung von Interessenkonflikten. Die Idee des „Guten Lebens“ durchzieht die Frage nach den Werten, die Ethikdiskussion seit Aristoteles. Daran orientiert kann politische Bildung Lernanlässe und Lernorte finden und bereitstellen.


Herstellungsillusion:

Politische Bildung kann aber keinesfalls weiter als Postulatspädagogik, mit Lehrzielen von der Art „Die Lernenden sollen“, betrieben werden. In der Folge ist die Bestimmung, was unter politischer Bildung zu verstehen sei, offen geworden. Dies gilt sowohl bezogen auf mögliche Intentionen, was denn die Adressaten Lernen wollen und sollen, als auch bezogen auf mögliche Themen, aus denen sich die Gegenstände beziehen lassen.

Das Eriwan-Prinzip lässt grüßen. Alles einzulösen, ergäbe notwendig eine Überlastung politischer Jugend- und Erwachsenenbildung. Die gute Absicht schlägt durch. Schönklingende Sprüche beeindrucken – gleichzeitig entziehen sich die zu beglückenden Adressaten. Insofern müssen zumindest eine Zurücknahme der Anforderungen und eine realistischere Einschätzung der Umsetzungsmöglichkeiten erfolgen. Vielleicht sind einige der Aussagen über „Krise“, „Defizite“, oder zumindest „Probleme“ der politischen Bildung darauf zurückzuführen, dass von Anfang an der Erfüllungshorizont der Verwirklichungschancen zu weit oder aber falsch abgesteckt war. Es gibt eine deutliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

Falsch war der Erfüllungshorizont auf alle Fälle dann abgesteckt, wenn damit Illusion verbunden war, man könne die intendierten Kompetenzen instrumentell in einer Ziel-Mittel-Wirkungskette durch hinreichend raffinierte Methoden erzeugen. In dieser Version gerät politische Bildung in das kritische Fegefeuer an einer sowohl postulatorisch als auch technisch – beides zugleich – operierenden Herstellungsdidaktik, die einem Lehr-Lern-Kurzschluss unterliegt. Man kann Wissen in den Köpfen anderer nicht erzeugen und man kann Lernen nicht erzwingen – schon gar nicht in der politischen Bildung, egal ob das oberste Richtziel Staatstreue oder Emanzipation heißt.

Die Resignation einiger Akteure im Feld könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass die Ansprüche von der Wirklichkeit sich weit entfernt haben. Allerdings enthält politische Erwachsenenbildung begründet durch kritische Wissenschaft immer auch ein utopisches Potential, indem sie sich nicht mit bestehenden Verhältnissen und Verhaltensweisen zufrieden gibt. Für eine solche kritische politische Bildung ist der Begriff Emanzipation dann doch ebenso schwierig wie unverzichtbar.

Es reicht aber eben nicht aus, sich auf äußere Anlässe oder Aufgaben zu beziehen, sondern Intentionen, Thematik und Methoden politischer Bildung müssen sich orientieren an den Interessen der Adressaten und an der Bedeutsamkeit der Gegenstände für die Lernenden.

Interessen sind allerdings mehr als aktuelle Motivationen. Interessen vermitteln zwischen den Subjekten und Thematiken. In der allgemeinsten Fassung geht es um verallgemeinerte Handlungsfähigkeit (Holzkamp 1983).

Es wäre fatal, wenn man die Veränderungen gesellschaftlicher Realität gar nicht mehr wahrnimmt. Zumindest bei einigen Protagonisten findet sich ein „Einigeln“ in alte Positionen und in eine normativistische Terminologie. Kennzeichnend sind postulatorische Konjunktive, Indikative und Imperative. Immer wieder heißt es: „Es wäre notwendig ...“, „Politische Bildung ist ...“, „Es soll ...“, „Es muss ...", „Politische Bildung soll ...“. Auch dies ist nichts weiter als Ausdruck der Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit. Spätestens hier wird deutlich, dass Jugendliche und Erwachsene gekennzeichnet sind durch „Unbelehrbarkeit“. Es geht nicht um Schulung in dieser oder jener Ideologie, sondern um das Erlernen der Kompetenzen, um gesellschaftliche Verhältnisse vergleichen, bewerten und gestaltend verändern zu können.

Wenigstens dies ist auch Resultat der in der Konstruktivismusdiskussion geführten Windmühlenkämpfe. Der Relativismus des „Radikalen Konstruktivismus“ hat auf alle Fälle dazu geführt, dass ein naiver Realismus bezogen auf den „Stoff“ politischer Bildung nicht mehr haltbar ist.

Dies stößt eine Kehre in der Diskussion um Lerntheorie an, welche sich abwendet von ihrem traditionellen Schwerpunkt auf Strategien des Lehrens und der Instruktion und sich hinwendet zu den lernenden Subjekten. – Es wird jetzt etwas theoretisch, aber das lässt sich nicht vermeiden: – In „subjektwissenschaftlicher Perspektive“ entstehen Lernanstöße dadurch, dass im alltäglichen Handeln Problemsituationen auftreten, in denen die Subjekte selbst „gute Gründe“ haben, welche zum Lernen anregen. Diese Lernanstöße sind die „je Eigenen“ und können nicht von außen gesetzt werden. Sie entstehen dann, wenn Routinen nicht mehr greifen und durchbrochen werden müssen.

Auf von außen gesetzte Lernanforderungen reagieren die Individuen „defensiv“, mit Verweigerung oder mit Lernwiderständen. Dies ist durchaus sinnvoll und vernünftig, wenn nicht abschätzbar ist, dass die Lernergebnisse den eigenen Interessen dienen oder ihnen sogar entgegenstehen. Man kann politische Einsichten verweigern, wenn man befürchtet nur in tiefere Hilflosigkeit oder Resignation getrieben zu werden. Man kann sich politischer Bildung entziehen, weil man deren Bedeutsamkeit nicht einsieht oder Handlungsmöglichkeiten eh für minimal hält.


Möglichkeiten „expansiven Lernens“ und Lernanstöße aus der alltäglichen Lebensführung

Fatal wäre es, wenn diese Einschätzung der Irrelevanz zu Recht bestünde. Dann wäre alles Gerede über die Relevanz politischer Bildung legitimatorisches Geschwätz. Wenn wir hier noch nach Wegen suchen diese Resignation zu durchbrechen, unterstelle ich, dass wir diese Einschätzung nicht teilen. Aber das genau ist das Kernproblem, dass alle Wichtigkeitsbeschwörungen diejenigen nicht erreichen, die eine solche Bedeutsamkeitszuweisung selber nicht vornehmen. Dies wäre neben dem didaktischen circulus vitiosus des Lehr-Lern-Kurzschlusses, der zweite, der adressatenbezogene Teufelskreis politischer Bildung.

Zentralfrage wird dann: „Wie entsteht Bedeutsamkeit für die Lernenden selbst? Voraussetzung für ein „expansiven Lernen“ ist die Ausgliederung gemeinsamer Lernproblematiken aus Handlungsproblematiken. Schwierigkeiten und Anstrengungen des Lernens werden dann übernommen, wenn in Antizipation der Ergebnisse von Lernprozessen eine Entfaltung der eigenen Lebensqualität erwartet wird. Die handelnden Jugendlichen und Erwachsenen entscheiden jeweils selbst, ob und was es zu lernen gibt. „Expansives Lernen“ zielt auf eine Erweiterung der eigenen Weltverfügung. Zentral für politische Bildung ist die Beteiligung an gesellschaftlicher Entscheidungsfindung.

Gleichzeitig gilt: „Keine politische Bildung kann auf die Verankerung in den Konflikterfahrungen des Alltags verzichten“ (Negt 2001, 581). Politische Bildung hat dann eine Chance, wenn Lernanstöße aus der alltäglichen Lebensführung entstehen und aufgenommen werden. Gesellschaftliche, also auch politische Verhältnisse werden für die Individuen dann relevant, wenn sie Bedeutung für die eigene Lebensführung (Holzkamp 1995) erhalten. Erfahrbar wird dies im Arbeitsalltag, in Familien- und Geschlechterbeziehungen, im Wohnumfeld des Stadtteils oder der Gemeinde, beim Sport, im Umgang mit Medien. Anknüpfend an solche erfahrbare Situationen können die individuellen Lebensinteressen in Kontexte gesellschaftliche Handlungsprämissen durch aktive Integrations- und Konstruktionsleistungen einbezogen werden.


Arbeitsorientierung

Den Stellenwert der Arbeitswelt halte ich nach wie vor als zentral für alle Bildungsarbeit. Aus diesem Grund habe ich das Konzept einer „Arbeitsorientierten-politikbezogenen Bildung“ vorgelegt. Lebenslagen in der gegenwärtigen Gesellschaft sind von der Gefährdung eigener und gesellschaftlicher Perspektiven, deren Kern der Einbezug in Erwerbstätigkeit ist, geprägt. Für einen wachsenden Teil der Bevölkerung verschlechtert sich die soziale Lage und es wächst Prekarität. Drohende Erwerbslosigkeit stellt das zentrale Problem dar. Diese Bedrohung geht einher mit einer skeptischen Einschätzung der Handlungsmöglichkeiten.

Es kann jedoch, wenn man die vorliegenden Studien nebeneinander sieht, weder von einer generellen Politikverdrossenheit noch von einer dramatisch zurückgehenden Partizipationsbereitschaft die Rede sein. Primär ist nicht Politikverdrossenheit sondern ein Glaubwürdigkeitsdefizit der Politik. Je belastender Zukunftsperspektiven erscheinen, desto mehr lehnen die Beteiligten den Politikbetrieb und vor allem die Parteien ab. Sie sind durchaus engagementbereit nur erscheinen ihnen die Strukturen und Akteure des politischen Systems und die Aktivitätsmöglichkeiten kaum geeignet befriedigendes Engagement einzubringen. Zwischen ihren Lebensinteressen und den wahrgenommenen Strukturmerkmalen des politischen Raumes gibt es einen Bruch. Paradox formuliert: Es gibt eine Bereitschaft zu sozialem Engagement im eigenen Umfeld gleichzeitig mit einer deutlichen und zunehmenden Ablehnung dessen, was traditionell unter den Begriff Politik gefasst wird. Zentral dafür ist Arbeitspolitik. Damit kommen Tarifkonflikte, Mitbestimmung und vor allem auch Arbeitsgestaltung in den Horizont politischer Gestaltung. Nahezu klassisch wurden diese Themen von der Arbeitsgruppe um Oskar Negt, Adolf Brock aufgegriffen im Themenkreis Betrieb: Der Arbeitnehmer in der industriellen Arbeitswelt; Konflikt um Lohn und Leistung; Industriearbeit und Herrschaft; die Würde des Menschen in der Arbeitswelt; Interessenvertretung der Arbeitnehmer im Betrieb.

Spätestens hier stößt man auf den besondern Stellenwert der Gewerkschaften und ihrer Bildungsarbeit.


Utopische Potentiale gewerkschaftlicher Bildungsarbeit

Oskar Negt hat in seinem kleinen Text „Wozu noch Gewerkschaften?“ für interessenbezogene, kulturelle und politische Mandatserweiterung der Gewerkschaften plädiert. Für alle diese Perspektiven ist es notwendig, sich aus fatalistischen Denkmustern zu lösen und über die fatalistische Faktizität hinauszugehen, Möglichkeiten zu entdecken und utopische Potentiale zu entfalten. Die Diskussion um „Gute Arbeit“ liefert dazu Ansätze, obwohl sie mittlerweile auch schon wieder auf Einkommens- und Sicherheitsaspekte reduziert zu werden droht.
Mir ist bewusst, dass ich dann ähnlich argumentiere wie Radio Eriwan – auf der Ebene des Möglichen: Wenn politische Bildung abstellt einerseits auf den Zusammenhang mit Erfahrungen der alltäglichen Lebensführung – besonders auch der Arbeitserfahrungen, zum andern auf die gemeinsame Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen, besteht zumindest die Chance, dass Jugendliche und Erwachsene politische Prozesse nicht als fremd und außengesetzt wahrnehmen, sondern den Bezug zu ihrem eigenen Lebensinteresse herstellen können. Widersprüchliche Erfahrungen, Brüche des Selbstverständlichen, gegenläufige Anforderungen können den Horizont öffnen für ein Begreifen der Bedeutsamkeit politischer Konstellationen und Konflikte, die einmünden in Beteiligung an bindenden Entscheidungen, welche den Weg zum „guten Leben“ öffnen. Die Einheit von Erfahren – Begreifen – Gestalten gibt so die Perspektive. Als Möglichkeit.


Peter Faulstich


Der Beitrag wurde gehalten auf der Tagung „Politische Bildung in politischen Zeiten. Zum Stand der politischen Erwachsenenbildung in Deutschland“ der Hans-Böckler-Stiftung und der IG BCE im März 2012. Der Abdruck erfolgt mit der Genehmigung des Autors.


Weitere Texte aus der Fachtagung finden Sie auf der Homepage der Hans-Böckler-Stiftung.



Literatur:
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Bremer, Helmut: Berufliche und politische Bildung: Nicht die Integration ist begründungsbedürftig, sondern die Desintegration. In: Möller, Svenja/Zeuner, Christine/Grotlüschen, Anke (Hg.): Die Bildung des Erwachsenen. Weinheim: Juventa, S. 89-97
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Faulstich, Peter: Integration allgemeiner und beruflicher Bildung. (Schlüsselqualifikation und das Bedürfnis nach Ganzheit.) In: Hessische Blätter für Volksbildung 44 (1991) H. 3, S. 193-198.
Faulstich, Peter: Politische Erwachsenenbildung I und II. Studienbriefe Erwachsenenbildung. Zentrum für Fernstudien & universitäre Weiterbildung. Kaiserslautern 1995.
Faulstich, P./Zeuner, Chr.: Erwachsenenbildung. Weinheim 1999, 2.Aufl. 2006
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Holzkamp, Klaus: Alltägliche Lebensführung als subjektwissenschaftliches Grundkonzept. In: Das Argument (1995) H.6, 817-845
Hufer, Klaus-Peter: Politische Bildung zwischen Emanzipation und Regression. In: Int. Jahrbuch der Erwachse¬nenbildung 21 (1993), S. 115-125.
Hufer, Klaus-Peter: Für eine emanzipatorische politische Bildung. Schwalbach/Ts. 2001.
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Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 05.12.2012