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Industrie- und Handelskammern müssen umdenken

Nur Sprachrohr von Arbeitgeberinteressen geht nicht mehr

Im Juni 2010 gab es ein bemerkenswertes Urteil aus Leipzig. Die klare Botschaft: Die 80 Industrie- und Handelskammern haben nur ein eingeschränktes politisches Mandat und sie müssen mehr sein, als nur Sprachrohr von Arbeitgeberinteressen. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat den politischen Äußerungen von Industrie- und Handelskammern Grenzen gesetzt. Das Urteil hat viel Wirbel in der Kammerlandschaft ausgelöst. Jetzt ist die umfassende Begründung erschienen. WAP sprach mit dem Bildungsexperten der IG Metall, Klaus Heimann, über die zwanzig Seiten starke Urteilsbegründung.

WAP: Sind den Kammern Grenzen für ihre Interessen-Lobby-Arbeit aufgezeigt worden?

Heimann: Ja, ohne Zweifel. Die Urteilsbegründung ist da eindeutig: Die Kammern dürfen als öffentlich-rechtliche Körperschaften, in der alle Arbeitgeber Zwangsmitglied sind, nur zu solchen Themen Stellung beziehen, bei denen es um nachvollziehbare Auswirkungen auf die gewerbliche Wirtschaft in ihrem Bezirk geht. Die Kammern haben kein umfassendes politisches Mandat.

WAP: Oft sind es ja die Kammergeschäftsführungen, die in der Öffentlichkeit die Meinung der Wirtschaft vertreten. Ist das so akzeptabel?

Heimann: Ja und Nein. Viele Geschäftsführungen definieren aus eigenem Gusto das vermeintliche Wirtschaftsinteresse. Das geht auf jeden Fall nicht. Das Bundesverwaltungsgericht sagt klipp und klar, dass die Kammer-Gremien die Politik bestimmen. Im Entscheidungsfall ging es um ein positives Votum für die Einführung von Studiengebühren. Hierzu hätten auch die Gremien votieren müssen: Vollversammlung und Berufsbildungsausschuss. Die Vollversammlung der Kammer wurde erst im Nachhinein beteiligt. Der zuständige Berufsbildungsausschuss hat die Vorlage nie gesehen. Schwere Verfahrensfehler.

WAP: Der Hebel für die Einschränkungen ist ja die Zwangmitgliedschaft bei den Kammern. Was bedeutet das?

Heimann: Das Urteil verlangt von den Kammern ein höchstmögliches Maß an Objektivität bei der Abfassung von Positionen. Sie muss das Gesamtinteresse der gewerblichen Wirtschaft im Auge haben. Eine reine Lobby-Positionierung von Arbeitergeberinteressen ist mit dem Status der Kammern als öffentlich rechtliche Einrichtungen unvereinbar. Hierin unterscheiden sich die Kammern ausdrücklich von Wirtschaftsverbänden.

WAP: Wirtschaftliche Gesamtinteressen - gehören dazu auch die Positionen der Arbeitnehmer?

Heimann: Ja, das ist für mich nach diesem Urteilsspruch wieder einmal und erneut bestätigt worden. Die Kammern müssen auf das Gesamtinteresse der gewerblichen Wirtschaft ausgerichtet sein und „dürfen die wirtschaftlichen Interessen einzelner Gewerbezweige oder Betriebe lediglich abwägend und ausgleichend berücksichtigen. Es wird ihnen die gesetzliche Verantwortung dafür auferlegt, dass sie im Rahmen ihrer Aufgabe, die gewerbliche Wirtschaft im Ganzen zu fördern, als öffentlich-rechtliche Selbstverwaltungskörperschaft das höchstmögliche Maß an Objektivität walten lassen." Dies schließt ein, dass auch die Interessen der Arbeitnehmer zu berücksichtigen sind.

WAP: Hat das Konsequenzen für die Art und Weise der Politik in der Öffentlichkeit.

Heimann: Ja, auch das. Die Kammern müssen sachlich argumentieren und die notwendige Zurückhaltung wahren. Mit diesem Erfordernis sind nicht nur Anforderungen an die Formulierung gestellt. Polemisch überspitzte oder auf emotionalisierte Konfliktaustragung angelegte Aussagen gehen überhaupt nicht mehr. Die notwendige Objektivität verlangt eine Argumentation mit sachbezogenen Kriterien. Dies schließt ausdrücklich die Darstellung von Minderheitenpositionen mit ein. Das Gericht sagt in seiner Begründung: Da das Gesamtinteresse der gewerblichen Wirtschaft Bezugspunkt der Aufgabenwahrnehmung ist und dies eine Abwägung der wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Gewerbezweige erfordert, muss eine Äußerung, die zu besonders umstrittenen Themen erfolgt, auch diese Abwägung erkennen lassen. Eine Legitimation für starke Worte ergibt sich auch nicht daraus, dass von den Mitgliedern häufig „spitzere" Formulierungen gefordert würden.

WAP: Welche Konsequenzen ergeben sich für die Berufsbildung der Kammern?

Heimann: Die Grundprinzipien des Urteils gelten auch für die Berufsbildung in der Kammer. Die Kammern müssen erstens den Berufsbildungsausschuss umfassend beteiligen. Zweitens müssen sie sachlich argumentieren und die Minderheitspositionen z.B., der Arbeitnehmergruppe berücksichtigen, auch in der öffentlichen Darstellung. Dritter Punkt: auch noch so große und wichtige Betriebe im Kammerbezirk können nicht per se definieren, was gesamtwirtschaftlichen Interessen in der Berufsbildung sind. Diese gilt es im Berufsbildungsausschuss zu diskutieren und zu beschreiben.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 23.06.2010, BVerwG 8 C 20.09


Quelle: WAP, Homepage der IG Metall

Schlagworte zu diesem Beitrag: Weiterbildung
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 26.09.2010