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Chancengleichheit statt Selektion

Unser Bildungssystem ist geprägt von Ausgrenzungen. Diese beginnen in den Kindertagesstätten, setzen sich im allgemeinbildenden Schulsystem mit seiner Dreigliedrigkeit fort und schotten die Hochschule von der beruflichen Aus- und Weiterbildung ab. Die Forderung nach Bildungsprivilegien für alle soll deutlich machen, dass ein demokratisches Bildungssystem Benachteiligungen wie Privilegien für spezifische Bevölkerungsgruppen vermeiden muss.

Akteure aus allen gesellschaftlichen Gruppen - den Gewerkschaften, den Arbeitgeberverbänden, sowie Politiker aller Parteien - betonen bei jeder sich bietender Gelegenheit die zentrale Bedeutung, die das Bildungswesen für die Gesellschaft und deren wirtschaftliche Entwicklung, aber auch für das Individuum hat, und dass das deutsche Bildungssystem reformiert werden müsse.

Missverhältnisse liegen auf der Hand
In einem auffälligen Missverhältnis hierzu stehen jedoch die Aktivitäten zur Reform des Bildungssystems. Hier gibt es nur wenig Bereitschaft, den Worten Taten folgen zu lassen. Dies betrifft sowohl die Bereitschaft zu strukturellen Reformen - eine Ausnahme stellen die Aktivitäten einzelner Bundesländer zur Überwindung des gegliederten Schulsystems dar - als auch die Bereitschaft, mehr Ressourcen in den Bildungssektor fließen zu lassen. So weist das statistisches Bundesamt zwar für 2006 ein leicht gestiegenes Bildungsbudget gegenüber 2005 um 1,4 Mrd. € aus. Aber auch in 2006 wurde noch nicht das Ausgabenniveau von 2004 erreicht, das damals um 3,2 Mrd. € höher lag als in 2006.


Für einen neuen bildungspolitischen Ansatz

Persönlichkeitsbildung muss die Verfahren und Instrumente anwenden, die den Menschen helfen, sich in dieser Welt der Umbrüche zu orientieren. Die Analyse und Bewertung von Wissen, die selbständige Reflexion und die Entwicklung kommunikativer Phantasie, die den Lernenden Bezüge zu den Lebensverhältnissen ihrer Mitmenschen in einer komplexen demokratischen Gesellschaft vermitteln, sollen die Ziele zukünftiger Bildungsprozesse sein. Abzulehnen ist Bildungsbegriff, der das schnelle, genormte Erreichen formal vergleichbarer, marktverwertbarer Abschlüsse in den Mittelpunkt stellt.
In einer demokratischen Gesellschaft ist das Ziel des Bildungsprozesses eine kommunikative, verständigungsorientierte und solidarische Persönlichkeit. Diese zeichnet sich durch sein abwägendes Urteil und durch ein eigenständiges politisches Urteilsvermögen aus.


Ganzheitliche Sicht
Was in Deutschland hierfür fehlt, ist die ganzheitliche Sicht der Dinge. In der Medizin, wo die Spezialisierung den Blick auf den ganzen Menschen verstellt; in der Finanzwirtschaft, wo das gierige Spiel mit virtuellen Werten hart erarbeitete Altersvorsorgen, Spargroschen und Arbeitsplätze zerstört und die Wertschöpfung der Realwirtschaft zunichte macht; in der Bildungspolitik, wo die Versäumnisse in vier Jahren frühkindlicher Erziehung kostspielige kompensatorische Bildungsbemühungen und jahrzehntelange Sozialtransfers verursachen und die frühe Entscheidung für Bildungs- und Berufswege bei den Zehnjährigen die Chance nimmt, durch die Entwicklung ihrer Leistungsfähigkeit den eigenen Stand in Arbeit und Beruf so gut wie möglich zu gestalten.

Die ganzheitliche Sicht auf das Bildungswesen, wie sie in den Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates und dem Bildungsgesamtplan der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung vorbildlich demonstriert wurde, ist angesichts der folgenden Mängel in unserem Bildungssystem dringend geboten:
  • Fast acht Prozent der Absolventen allgemeinbildender Schulen verlassen diese ohne einen Schulabschluss.

  • Die Zahl der funktionalen Analphabeten ist mit vier Millionen in Deutschland erschreckend hoch.

  • Die Entscheidung über die Bildungskarriere wird stärker als in anderen Ländern von der sozialen Herkunft der Eltern geprägt.

  • Mehr als eine halbe Million Jugendliche landen im sogenannten beruflichen Übergangssystem zwischen Schule und Beruf - die meisten von ihnen ohne Chance auf eine qualifizierende Ausbildung.

  • Von den Jugendlichen mit Migrationshintergrund schaffen unverhältnismäßig viele keinen Schulabschluss. Jeder Dritte hat keine Ausbildung. Sie sind die Verlierer des Bildungssystems.

  • Beschämend niedrige Beteiligung der erwachsenen Bevölkerung am lebenslangen Lernen. Im Bereich der Weiterbildung nimmt Deutschland bei internationalen Vergleichsstudien wie CVTS (Continuinig Vocational Training Survey) bei allen Indikatoren bestenfalls eine mittlere Position ein.

Es gibt daher ausreichend Gründe, sich für eine Reform unseres Bildungssystems einzusetzen. Denn hinter diesen Befunden verbergen sich nicht nur Einzelschicksale, junge und auch alte Menschen, die aus Bildungsprozessen ausgegrenzt werden, was schon erschreckend genug ist, sondern zunehmend wird auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands damit mittelfristig gefährdet.


Alternativen aufzeigen
In den Beiträgen dieser Ausgabe von denk-doch-mal.de wollen wir aufzeigen, wo die Defizite im deutschen Bildungssystem sind und welche Alternativen es hierzu gibt.

Im Kontext zu dieser Ausgabe von denk-doch-mal steht die Veröffentlichung des Wissenschaftlichen Beraterkreises von ver.di und IG Metall: Berufs-Bildungs-Perspektiven 2009, die den gleichen Titel hat.


Dr. Roman Jaich
Wissenschaftlicher Mitarbeiter von ver.di, Berlin
in denk-doch-mal 3/2009, Onlinemagazin für Arbeit, Bildung, Gesellschaft


Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 03.07.2009