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Das Duale System und Europa

Ein Gutachten im Auftrag von ver.di und IG Metall

Die Struktur des Gutachtens und die wichtigsten Ergebnisse im Überblick


Das Gutachten enthält, um dem Leser ausreichende Informationsgrundlagen für das Verständnis und die Beurteilung der europäischen Berufsbildungspolitik zu liefern, zunächst zwei Kapitel, die sich auf die beschreibende Darstellung des angestrebten Systems konzentrieren (Kapitel II und III). Daran schließen sich kritische Analysen in verschiedenen Perspektiven an. Diskutiert werden die Tragfähigkeit der Begründungen sowie die eigentlichen Ziele der Schaffung von EQR und ECVET, ihre absehbaren Folgen sowie die Formen der Politik, in denen sie entwickelt und durchgesetzt werden (Kapitel IV, V und VI). Am Ende stehen Schlussfolgerungen für das Handeln der Gewerkschaften (Kapitel VII).



Die Ergebnisse des Gutachtens lassen sich holzschnittartig zu den folgenden Aussagen zusammenfassen:


  1. Die europäische Berufsbildungspolitik hat – nach wechselnden und insgesamt mäßig erfolgreichen Ansätzen, Qualifikationen in Europa transparent zu machen, in den Jahrzehnten vorher – in den letzten Jahren erheblich an strategischer Ausrichtung, Dynamik und Durchsetzungsfähigkeit gewonnen. Basis dafür war und ist einerseits die Implementation eines neuen Politikmodus und eines neuen Verhältnisses zwischen Kommission und Mitgliedsstaaten bzw. beteiligten Nationalstaaten, andererseits die Entwicklung des Instrumentariums von EuroPass, EQR und ECVET. Damit ist auch eine Zunahme von Gefährdungspotentialen für das Duale System und seine Leistungen für die deutsche Gesellschaft verbunden. Will man abschätzen, was in Zukunft sinnvolle Berufsbildungspolitik deutscher Akteure, insbesondere der Gewerkschaften, sein kann, muss man die Geschichte der europäischen Berufsbildungspolitik zumindest in grobem Umrissen kennen. Dies ist Voraussetzung, um ihre aktuelle Stoßrichtung und deren Wurzeln erkennen und realistisch einschätzen zu können. Der Darstellung dieser Vor- und Frühgeschichte der aktuellen europäischen Berufsbildungspolitik widmet sich – in der gebotenen Kürze und mit der dafür unvermeidlichen Komprimierung – Kapitel II.

  2. Für die Zukunft des Dualen Systems sind vor allem die mehrfach erwähnten neuen Instrumente europäischer Berufsbildungspolitik relevant, die – zusammen mit einigen auf europäischer Ebene vereinbarten Prinzipien, Leitlinien und Verfahren – zu einem neuartigen System der Strukturierung, Bewertung, Anerkennung und Zertifizierung von Qualifikation zusammengeführt werden sollen: der EuroPass, vor allem aber der Europäische Qualifikationsrahmen und das Europäische Leistungspunktesysteme für berufliche Bildung. Mit diesen Instrumenten sollen Veränderungen implementiert werden, die gravierende Auswirkungen auf das deutsche Berufsbildungssystem haben können: die Modularisierung von Ausbildung und die Fragmentierung von Berufsqualifikationen, die Ausrichtung der Qualifikationsbewertung an Lernergebnissen (“Outcomes”) statt an Lernprozessen und ihren Inputs; und die damit eng verknüpfte Dominanz des Lernziels von in konkreten Arbeits- oder Lernsituationen nachzuweisenden Handlungskompetenzen. Auf der Darstellung der konzeptuellen Grundlagen dieser Instrumente und der konkreten Vorschläge zu EQR und ECVET (einschließlich der Leitlinien, die sie flankieren sollen) sowie der heute noch offenen Fragen liegt ein erster Schwerpunkt des Gutachtens (Kap. III).
Anschließend werden die vielen Ziele vorgestellt, mit denen die Schaffung von EQR und ECVET von Kommission und nationalen Regierungen in der Öffentlichkeit begründet wird. Diese Begründungen überzeugen nur bedingt. Die genannten Ziele sind mit den angestrebten Instrumenten nur in Grenzen oder gar nicht zu erreichen; und vor allem könnten sie auch mit wesentlich bescheideneren (weniger folgenreichen und weniger kostenträchtigen) Mitteln erreicht werden (Kap. IV, Abschn. 1).

Dieses Missverhältnis zwischen Begründungen und den für die Schaffung dieser Instrumenten notwendigen Veränderungen und Aufwände wirft die Frage nach den eigentlichen Zielen dieser Politik und den dahinterstehenden Interessen auf. Diese Ziele und Interessen werden nur selten offen thematisiert, sind aber doch sehr deutlich: (1) das Ziel, die Arbeitskraftpotentiale aller europäischen Länder und Qualifikationsstufen soweit transparent zu machen und zu mobilisieren, dass sie von den (west)europäischen Unternehmen flexibel genutzt werden können; (2) die Förderung der Branche der Bildungsanbieter sowie Validierungs- und Zertifizierungsunternehmen bzw. –institutionen durch Ausbau eines gesamteuropäischen Markts für Bildungsleistungen und bildungsbezogene Dienstleistungen; sowie (3) das Ziel, auf diese – indirekte – Weise eine gewisse Angleichung der europäischen Berufsbildungssysteme herbeizuführen, die die Kommission aufgrund ihrer begrenzten rechtlichen Kompetenzen auf direktem Wege nicht durchsetzen kann und die von den Mitgliedsstaaten jahrzehntelang blockiert wurde. Diesen eigentlichen Zielen der neueren europäischen Berufsbildungspolitik widmet sich der zweite Teil des Kapitels IV.

Aufbauend auf diesen Informationsgrundlagen wird anschließend versucht, die Folgen einer Implementation des angestrebten Instrumentariums für das Duale System und die deutsche Gesellschaft abzuschätzen. Dies ist natürlich angesichts von vielen noch offenen Fragen zur Ausgestaltung des EQR/ECVET-Systems auf europäischer, vor allem aber auf nationaler Ebene nur näherungsweise möglich. Verschiedene Szenarien sind denkbar: Setzt sich das angestrebte System durch, dann wird es das Duale System – früher oder später – eliminieren. Dies gilt naturgemäß für den Fall einer gezielten offiziellen Politik der Ablösung des Dualen System durch formelle Aufhebung seiner rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen durch die deutsche Regierung und die Sozialpartner. Es gilt aber mit großer Wahrscheinlichkeit auch für den Fall, dass Regierung und Sozialpartner auf “Koexistenz” von Dualem System und EQR/ECVETSystem setzen. Allerdings ist unter bestimmten Bedingungen in dieser Konstellation auch ein Scheitern der Implementation des EQR/ECVET-Systems in der Gesellschaft denkbar; in diesem Fall wäre das Duale System natürlich nicht gefährdet.

Für die beiden zuerst genannten Szenarien hingegen sind – wenn auch mit unterschiedlichen Zeithorizonten – gravierende systemische Folgen für die Berufsausbildung vorprogrammiert: die Transformation des öffentlich geregelten Berufsbildungssystems in einen Markt für Module der Erstqualifizierung und der Validierung und Zertifizierung ihrer höchst heterogenen Ergebnisse sowie, daraus resultierend, eine Vielzahl von Veränderungen des Ausbildungsverhaltens von Betrieben und Nachwuchskräften, die zusammen mit anderen Faktoren zu deutlich verschlechterter Systemqualität und Ergebnisqualität führen müssen.

Dazu kämen gravierende Sekundärfolgen dieser Veränderungen der beruflichen Erstausbildung für die Qualifikationsversorgung des Arbeitskräftenachwuchses und eines großen Teils der deutschen Wirtschaft, für den Arbeitsmarkt, für die öffentlichen Haushalte, für die Lohnfindung und – genereller – für die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern (Kap. V).

Auch der Prozess, in dem die neuere europäische Berufsbildungspolitik konzipiert und durchgesetzt wird, erfordert eine kritische Analyse, wenn man die europäische Berufsbildungspolitik beurteilen will. Kritisch zu konstatieren sind zum einen die unzureichende Information der Bevölkerung über die realen Implikationen und Folgen dieser Politik, zum anderen problematische Formen, in denen die Kommission den Boden für weitreichende Weichenstellungen der Zukunft der beruflichen Bildung bereitet hat und versucht, Akzeptanz für diese Weichenstellungen zu beschaffen. Kritisch zu konstatieren sind außerdem die Formen, in denen die Durchsetzung ihrer Zielvorstellungen vorangetrieben wird durch Einbindung der nationalen Regierungen, die ja die ausschließliche Entscheidungskompetenz für die Gestaltung von Berufsbildungssystemen haben, und eines Teils der nationalen Akteure einschließlich der Forschung, die diesen Prozess eigentlich kritisch begleiten müßten (Kapitel VI).

Die Analysen des Gutachtens begründen Schlussfolgerungen in Bezug auf sinnvolle und realistische Strategien der Gewerkschaften und anderer Akteure, die die Grundprinzipien und den gesellschaftlichen Nutzen des Dualen Systems erhalten wollen, in mehreren Schritten: Zunächst werden in einem Zwischenresümee Vor- und Nachteile einer Einführung von EQR und ECVET gegeneinander abgewogen. Ergebnis ist eine Empfehlung, das von der Kommission präsentierte Konzept abzulehnen und der damit verbundenen Entwicklung entgegenzutreten. Dann wird geprüft, wie realistisch eine Strategie der Aufrechterhaltung des Dualen Systems angesichts seiner Erosionstendenzen überhaupt ist. Ergebnis ist eine Bekräftigung der genannten Empfehlung, da die Abwägung zwischen EQR/ECVET-System und Dualem System auch unter diesen Bedingungen noch positiv ausfällt und Erosionstendenzen keineswegs zwangsläufig zu seinem Verfall führen müssen; allerdings ist Bestandteil dieser Strategie, diesen Tendenzen entgegenzutreten.

Abschliessend wird die Alternative EQR/ECVET-System oder Duales System in europapolitischer Perspektive diskutiert. Ergebnis ist, dass die Transformation öffentlich verantworteter Berufsbildungssysteme in einen gesamteuropäischen Markt von Modulen und Zertifikaten nicht mit der gewerkschaftlichen Zielsetzung eines sozialen Europas vereinbar ist. Bei einer Ablehnung des EQR/ECVET-Systems geht es also nicht nur um die Verhinderung seiner problematischen Folgen für berufliche Bildung und ihrer gesellschaftlichen Sekundärfolgen für die deutsche Gesellschaft. Es geht auch darum, zu verhindern, dass das Ziel eines sozialen Europas auf dem Feld der Berufsbildung einen Rückschlag erleidet und dass Europa damit in der Bevölkerung noch mehr an Akzeptanz verliert (Kap. VII).


Sie können das vollständige Gutachten hier als pdf-Datei herunterladen.

Verweise zu diesem Artikel:
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 26.09.2006