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Bildungsprivilegien für alle!

Chancengleichheit statt Selektion


Die Welt steckt inmitten der größten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit: Eröffnet sie neue Chancen einer Veränderung des allgemeinen Bewusstseins? Erzeugt sie ein ernsthaftes Umdenken in einer ganzen Reihe zentraler Fragestellungen unseres gesellschaftlichen Lebens, die das Verhältnis von Staat und Gesellschaft betreffen, eine neue Balance zwischen Ökonomie, Ökologie und Kultur? Eine solche Veränderung wird nicht allein vom Erfolg oder Misserfolg beispielloser Stützungsaktionen der Einzelstaaten abhängen. Zur Zeit fehlt es für den Aufbau einer friedlichen Entwicklung und dem sozialen Zusammenhalt verpflichteten Weltwirtschaft an geeigneten Regeln und an wirksamen Instrumenten.

Die durch die global agierenden Finanzinstitutionen ausgelöste Krise hat in einer bislang nicht gekannten Weise einen breiten gesellschaftlichen Konsens hervorgerufen, dass die Gestaltung der zukünftigen globalen Wirtschaftsbeziehungen und der Entwicklung demokratischer Gesellschaften zweier Eckpfeiler bedarf: Eindeutiger staatlicher Regelwerke als Rahmen der Finanz- und Wirtschaftsbeziehungen und des gerechteren Zugangs zu allgemeiner und beruflicher Bildung für alle Menschen. Vor diesem Hintergrund ist auch in Deutschland eine Neuorientierung der Bildungspolitik dringend geboten, um die demokratische Grundstruktur unserer Gesellschaft zu erhalten und alle Menschen in unserem Land zur Mitgestaltung ihrer Lebenswelt zu befähigen und zu motivieren.

Derzeit ist unser Bildungssystem geprägt von Ausgrenzungen. Diese beginnen in den Kindertagesstätten, setzen sich im allgemeinbildenden Schulsystem mit seiner Dreigliedrigkeit fort und schotten die Hochschule von der beruflichen Aus- und Weiterbildung ab. Die Forderung nach Bildungsprivilegien für alle macht deutlich, dass ein demokratisches Bildungssystem Benachteiligungen wie Privilegien für bestimmte Bevölkerungsgruppen vermeiden muss. Dieser Forderung gehen die Berufsbildungsperspektiven 2009 in fünf Handlungsfeldern der Bildung nach. Wir charakterisieren zunächst die Debatte um Bildungsstandards und versuchen zu ergründen, welches Reformpotenzial hieraus erwächst. Aus den von uns dargestellten fünf Handlungsfeldern der Bildung haben wir außerdem Empfehlungen an die Politik abgeleitet.


Bildung für alle

Persönlichkeitsbildung muss die Verfahren und Instrumente anwenden, die den Menschen helfen, sich in dieser Welt der Umbrüche zu orientieren. Die Analyse und Bewertung von Wissen, die selbstständige Reflexion und die Entwicklung kommunikativer Phantasie, die den Lernenden Bezüge zu den Lebensverhältnissen ihrer Mitmenschen in einer komplexen demokratischen Gesellschaft vermitteln, sollen die Ziele zukünftiger Bildungsprozesse sein. Wir wenden uns gegen einen Bildungsbegriff, der das schnelle, genormte Erreichen formal vergleichbarer, marktverwertbarer Abschlüsse in den Mittelpunkt stellt.

Dieser Ansatz rückt auch die Frage nach dem Menschenbild in den Vordergrund, auf das die Erziehung und Bildung in der Gesellschaft orientiert ist. In der neoliberalen Weltanschauung gibt es darauf die Antwort eines eigeninteressierten, ökonomisch und sozio-technisch eingestellten Individuums.

In einer demokratischen Gesellschaft lautet die Antwort anders: Das Ziel ist eine kommunikative, verständigungsorientierte und solidarische Persönlichkeit. Der amerikanische Soziologe David Riesman und Erziehungswissenschaftler hatte für diesen Persönlichkeitstypus den Begriff des innengeleiteten Menschen geprägt. Dieser zeichnet sich durch sein abwägendes Urteil und durch ein eigenständiges politisches Urteilsvermögen aus.

Selbst inmitten der Wirtschafts- und Finanzkrise verstummen die Parolen derer nicht, die immer noch den allseitig verfügbaren Menschen propagieren, der absolut flexibel und bindungsschwach ist, einen – politisch gesprochen – leistungsbewussten und autoritären Mitläufer. Dagegen lässt sich die öffentliche Aufgabe und Verpflichtung der Erziehung und Bildung mit Immanuel Kant benennen, wenn er von Aufklärung spricht: Es ist der Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten und sicherlich auch fremdverschuldeten Unmündigkeit. Und als Erziehungsziel formuliert Kant: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen.

Forderungen wie die nach Durchlässigkeit der Bildungsgänge und Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung laufen unter den heutigen bildungspolitischen Rahmenbedingungen ins Leere. Wie die entsprechenden Bildungsdebatten zeigen, stoßen diese seit Jahrzehnten erhobenen Forderungen kaum mehr auf nennenswerte Widerstände. Exemplarisch bestätigt sich dies bei der Diskussion des Deutschen Qualifikationsrahmens – alle beteiligten Gruppen sind dafür. Auch sind durchaus – wenn auch bescheidene – strukturelle Entwicklungen in Richtung der genannten Reformforderungen zu verzeichnen. Nur geht dies nicht mit mehr Chancengleichheit und Gerechtigkeit einher, sondern im Gegenteil mit mehr Selektion und Ausgrenzung. Dies belegt die Empirie für weite Teile des Bildungssystems.

Die bildungspolitischen Ursachen hierfür liegen offensichtlich in der Um- und Neusteuerung des Bildungssystems, die unter Schlagworten wie Bildungsstandards, Output- und Outcomeorientierung, Qualifikationsrahmen, Qualitätssicherung, Akkreditierung und Evaluation stattfindet. Die bildungspolitischen Entscheidungen werden zunehmend aus dem demokratisch legitimierten parlamentarischen Raum in die Anonymität der Bürokratien und die von ihr beauftragten Zertifizierungs- und Akkreditierungseinrichtungen verlagert. Im Klartext: Diese Steuerungsinstrumente bestimmen und gestalten das Bildungssystem zunehmend ohne politische Kontrolle. Sie sind in einigen Bildungsbereichen wie der Sekundarstufe I und dem Hochschulbereich mittlerweile tonangebend, und zwar unter merklicher Zurückdrängung der öffentlichen Verantwortung für die Bildung. Es gibt einen grundlegenden Perspektivenwechsel in der Bildungspolitik, der kurz gesagt die Steuerung von Bildung vorrangig auf Effizienz, Ergebnisse und Marktbedarfe auslegt und mehr oder weniger neoliberalen Mustern folgt. Dies geht einher mit dem Vordringen der Kommerzialisierung in der Bildung.

Diese Steuerungs- und Gestaltungsinstrumente sind aber nicht per se einer bestimmten Bildungspolitik verpflichtet, sie können auch für eine reformbezogene Modernisierung des Bildungssystems genutzt werden. In jedem Fall können sie in ihrer Funktionsweise und -wirkung die Weichen im Hinblick auf Chancengleichheit, Integration und Gerechtigkeit stellen.

Die Diskussion über und Einführung von Bildungsstandards im allgemeinbildenden Schulsystem hängt vorrangig mit der Rezeption und Auseinandersetzung der PISA- und TIMMS-Ergebnisse zusammen. Das von der KMK in Auftrag gegebene so genannte Klieme-Gutachten zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards prägt die Diskussion in Deutschland bis heute und ist Teil der mit den PISA-Ergebnissen verbundenen Modernisierungsversuchen am Bildungswesen, so auch der Einführung von Bildungsstandards im allgemeinbildenden Schulwesen.

Ein anderer Bezugs- und Legitimationspunkt ist der Europäische Qualifikationsrahmen, der für die allgemeine und die berufliche Bildung auf Standards und damit verbundene Leistungsüberprüfungen und Outcomes setzt. Eine Outcomeorientierung ist der Berufsbildung keineswegs fremd, so werden seit 1969 mit Einführung des Berufsbildungsgesetzes Standards von den Sozialparteien und dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) entwickelt.

In der Theoriediskussion und in der Praxis des allgemein bildenden Schulwesens, der beruflichen Ausbildung, der hochschulischen Ausbildung und der Weiterbildung gibt es erhebliche Unterschiede über die Bedeutung und Wirksamkeit von Standards. Mit deren Einführung verbinden sich zum Teil widersprüchliche Erwartungen. Zentral stellt sich für alle Bildungsbereiche die Frage nach den Zielen, der Funktion und der Struktur von Bildungsstandards. Im Moment sind folgende sich überschneidende Grundverständnisse sichtbar:

Bildungsstandards
  • bezwecken die Vereinheitlichung und Vergleichbarkeit von Kompetenzen, die Lernende nach bestimmten Bildungs- oder Qualifizierungsdurchläufen entwickelt haben;

  • sollen die Überprüfbarkeit, die Mess- und Bewertbarkeit der Kompetenzentwicklung ermöglichen, und zwar anhand von messbaren Leistungen, von Erfolgen und Misserfolgen der Lernenden;

  • sind Instrumente zur Steuerung, Kontrolle und Überwachung von Bildungs- und Kompetenzentwicklungsprozessen und Instrumente für den Vergleich von Bildungssystemen;

  • dienen der Qualitätssicherung, Qualitätsverbesserung und Evaluation des Bildungswesens.

Die Einführung von verbindlichen länderübergreifenden Bildungsstandards wird vonseiten der KMK als eine grundlegende Umsteuerung des allgemein bildenden Schulwesens von einer vorrangigen Inputsteuerung über Lehrplan- und Strukturmaßnahmen zu einer Outputsteuerung verstanden, bei der eine systematische Erfassung und Bewertung der erreichten Lernergebnisse und Kompetenzen stattfindet. Die Vergleichbarkeit der Schulabschlüsse soll darüber ebenso hergestellt werden
wie die Durchlässigkeit des Bildungswesens.

Die Berufsbildung wird in diese Diskussion bisher nicht direkt einbezogen. Der Verweis, dass anerkannte Ausbildungs- und Fortbildungsordnungen einen Standard darstellen, der den neu diskutierten Bildungsstandards in vielen Punkten nahe komme bzw. ihnen vorausgehe, trägt nur eingeschränkt, wie fehlende Anerkennungen, Vergleichbarkeiten und Qualitätssysteme zeigen. Dieses Fehlen ist aber nicht den Standards anzulasten, sondern dem fehlenden politischen Willen, diesen Standards Verbindlichkeit im Sinne von Durchlässigkeit zu verleihen.

Vielfach wird die Umorientierung des Bildungswesens von einer vorrangigen Inputsteuerung in eine Output- und Outcomesteuerung als Konsequenz der Einführung von Bildungsstandards gesehen. Eine derartige Umorientierung in dieser einseitigen Form bedeutet in der Tat eine verengte Ausrichtung an den Erfordernissen des Marktes und eine weitgehende Aufgabe von Input- und Prozessstandards.

Inwieweit Bildungsstandards darüber hinaus selbst als Qualitätssicherungsinstrument dienen können, ist noch weitgehend offen. Bildungsstandards sagen in ihrer Outputorientierung etwas über die Lern- bzw. Kompetenzeffekte, kaum aber über die Qualität der Kompetenzentwicklung aus. Insbesondere sagen sie nichts über die Qualität der Lern-, Handlungs- und Bildungsprozesse der Einzelnen aus.

Unsere Forderung Bildung für alle bedeutet daher, nicht einer einseitigen Outcome- oder Qutputorientierung zu folgen, sondern in allen Bildungsbereichen eine Gleichzeitigkeit von Input-, Prozess- und Outcomeorientierung herzustellen bzw. zu erhalten. Insbesondere für sozial Benachteiligte und Geringqualifizierte gilt zudem, dass die Subjekt- und Bildungsbezogenheit wesentlich über eine Input- und Prozessorientierung einzulösen ist.

Die Fokussierung auf Bildungsstandards als alleiniges Reforminstrument ist unzureichend. Mit unseren Empfehlungen an die Politik wollen wir den Blick wieder öffnen und umfassend für einen Perspektivenwechsel in der Bildungspolitik werben: Deutschland braucht einen Perspektivenwechsel im Bildungswesen. Wir fordern ein Bildungswesen, das nicht ausgrenzt, sondern motiviert und allen Menschen eine ihren Fähigkeiten und Wünschen entsprechende Bildung ermöglicht. Wer diese Reformperspektive teilt, kann sich nicht auf die Einführung von Bildungsstandards beschränken.


Unsere Empfehlungen an die Politik

Was fehlt ist die ganzheitliche Sicht der Dinge. In der Medizin, wo die Spezialisierung den Blick auf den ganzen Menschen verstellt; in der Finanzwirtschaft, wo das gierige Spiel mit virtuellen Werten hart erarbeitete Altersvorsorgen, Spargroschen und Arbeitsplätze zerstört und die Wertschöpfung der Realwirtschaft zunichte macht; in der Bildungspolitik, wo die Versäumnisse in vier Jahren frühkindlicher Erziehung kostspielige kompensatorische Bildungsbemühungen und jahrzehntelange Sozialtransfers verursachen und die frühe Entscheidung für Bildungs- und Berufswege bei den Zehnjährigen die Chance nimmt, durch die Entwicklung ihrer Leistungsfähigkeit den eigenen Stand in Arbeit und Beruf so gut wie möglich zu gestalten.

Die ganzheitliche Sicht auf das Bildungswesen, wie sie in den Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates und dem Bildungsgesamtplan der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung vorbildlich demonstriert wurde, ist angesichts der folgenden Sachverhalte und Mängel in unserem Bildungssystem dringend geboten:
  • demografische Entwicklung,

  • wachsende Bedeutung von Einwanderern für unsere Gesellschaft,

  • schrittweise Angleichung der Bildungsabschlüsse in Europa,

  • Mängel in der frühkindlichen Erziehung,

  • frühe Selektion im dreigliedrigen Schulsystem,

  • mangelnde Durchlässigkeit zwischen den allgemeinen Bildungsgängen einerseits und den beruflichen und akademischen Bildungsgängen andererseits,

  • fehlende Anerkennung beruflicher Bildungsleistungen, die in Schulen erbracht wurden,

  • unzureichende Angebote und überwiegend unzumutbare Bedingungen, neben dem Beruf allgemeine Bildungsabschlüsse nachzuholen oder ein Studium zu absolvieren,

  • im europäischen Maßstab miserable Situation in der Bildungs- und Berufsbildungsberatung

  • beschämend niedrige Beteiligung der erwachsenen Bevölkerung am lebenslangen Lernen.

Auf die folgenden sechs Bildungsbereiche konzentrieren wir unsere Reformvorschläge an die Politik.


Frühkindliche Lernpotenziale nutzen

Die Probleme unseres Bildungssystems und des Arbeitsmarktes werden auf dramatische Weise verstärkt, wenn wir die neueren Erkenntnisse der neurologischen und pädagogischen Wissenschaft ignorieren und der frühkindlichen Bildung nicht die Priorität einräumen, die ihr mit Blick auf die Entwicklung der Kinder zukommt.
  • Wir empfehlen einen verbindlichen langfristigen Ausbauplan 2025 mit dem Ziel, für 70 % der zwei- bis dreijährigen Kinder ein Bildungsangebot zur Verfügung zu stellen. Notwendig ist dafür eine solide Finanzierung für ein Erziehungs- und Bildungsangebot, das die bestehenden regionalen Unterschiede in Deutschland ausgleicht. Das Kindertagesstättenausbaugesetz (TAG) aus dem Jahr 2004, das einen Ausbau der Betreuung für unter dreijährige Kinder auf 750.000 Plätze bis 2013 vorschreibt, ist entsprechend zu reformieren.

  • Wir empfehlen einen Ausbauplan 2030, zur Umgestaltung der Kindertagesstätten in Bildungseinrichtungen mit Ganztagsbetreuung für 60% der Kinder ab 4 Jahren. Dies bedeutet eine konzeptionelle pädagogische Neuausrichtung von Betreuungs- zur Bildungsstätte und eine zeitliche Ausdehnung des Angebots auf sieben bis zehn Stunden. Diese grundlegenden Veränderungen bedürfen vielfältiger Neuerungen auf zahlreichen Gebieten einschließlich der akademischen Ausbildung des Personals. Um die Bedeutung von Kindertagesstätten als Bildungseinrichtungen hervorzuheben ist es erforderlich, ihnen den Status öffentlicher Bildungseinrichtungen zuzuerkennen. Damit entfallen die Elternbeiträge.

Längeres gemeinsames und kindgerechtes Lernen in der Schule

Trotz eindeutiger Befunde nationaler und internationaler Studien, die die Ursächlichkeit des dreigegliederten Schulsystems für die nachteilige Entwicklung und Ausgliederung von mehr als einem Drittel der Kinder einer Jahrgangsstufe belegen, halten die Länder an den aus dem vordemokratischen Standesdenken des 19. Jahrhunderts hervorgegangenen Schulformen fest.

Wir setzen uns für eine Gemeinschaftsschule mit Ganztagsbetrieb ein, die sich in Europa als die dem deutschen Schulsystem überlegene, entwicklungsgerechte und förderliche Schulform erwiesen hat. Nach der gemeinsamen Primar- und Sekundarstufe I bestehen in der Sekundarstufe II der allgemeinbildende und berufliche Zweig.

Die Qualität des Unterrichts in deutschen Schulen, einschließlich der Förderung schwächerer und stärkerer Schüler, leidet erheblich unter den überwiegend noch sehr hohen Schülerzahlen pro Klasse. Maßstab für das zahlenmäßige Lehrer-Schüler-Verhältnis sollte der OECD-Durchschnitt sein, der in der Primarstufe 1 zu 16 und in der Sekundarstufe I 1 zu 14 beträgt.


Den betrieblich-beruflichen Bildungstyp weiter ausbauen

Notwendig ist die Verbreiterung von Qualifizierungspfaden nach Abschluss der Berufsausbildung. Wir empfehlen die Einrichtung eines beruflichen Bildungsweges, der vom mittleren Bildungsabschluss über eine duale Ausbildung führt, berufliche Aufstiegsweiterbildung bis zu Hochschulstudiengängen auch für beruflich Qualifizierte ermöglicht. Dabei ist von zentraler Bedeutung, dass die didaktischen und methodischen Konzepte, die berufliche Sozialisation sowie die Berufs- und Lebenserfahrung der Studierenden berücksichtigt werden. Duale und berufsbegleitende Masterstudiengänge, wie sie an Fachhochschulen bereits bestehen, sind auf dem Wege zu solchen Vollzeitstudiengängen der erste Schritt.

Unabhängig davon, dass dual Aus- und Weitergebildete einen besseren Zugang zur Universität erhalten, ist es notwendig, das System der beruflichen Fortbildungen weiter auszubauen. Bei entsprechender Qualitätssicherung wird es möglich sein, eigenständig Abschlüsse auf Bacheloroder Master-Niveau zu vergeben.

Um die Ausbildungschancen junger Migrantinnen und Migranten zu stärken, empfehlen wir ein Integrationspaket. In lokalen Bündnissen aus Gewerkschaften, Wirtschaft, Bundesagentur für Arbeit (BA), Schulen und Migrationsverbänden sollen verschiedene Maßnahmen angepackt werden, die von der Erhöhung des Anteils an Berufsberatern der BA mit Migrationshintergrund bis zur Nutzung des Instruments der Berufseinstiegsbegleitung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund reichen.


Berufliches Schulwesen ausbauen und das Übergangssystem abschaffen

Mehr als 500.000 Jugendliche werden zurzeit im Übergangssystem von der Schule in den Beruf – ohne Aussicht auf einen verwertbaren Berufsabschluss – durch ein unüberschaubares System von Maßnahmen und Bildungsgängen geschleust. In diesen unproduktiven Warteschleifen verlieren sie jede Motivation und Freude am Lernen.

Wir empfehlen die Bündelung der lokalen und regionalen Ressourcen, die für Berufsorientierung, Berufsvorbereitung, berufliche Grundbildung in allgemeinen und beruflichen Schulen aufgewendet werden. In Verbindung mit einem externen Ausbildungsmanagement für kleine und mittlere Betriebe können die Übergänge in die betriebliche Ausbildung für Hauptschüler/-innen und benachteiligte Jugendliche erhöht und damit die Chancen auf einen Berufsabschluss erheblich verbessert werden.


Hochschulen für alle öffnen

Wir empfehlen die Einrichtung eines beruflichen Bildungsweges vom mittleren Bildungsabschluss über eine duale Ausbildung, berufliche Aufstiegsweiterbildung bis zu Hochschulstudiengängen für beruflich Qualifizierte, die didaktisch und methodisch die berufliche Sozialisation sowie Berufs- und Lebenserfahrung der Studierenden berücksichtigen und die im Bolognaprozess eingeführten Hochschulabschlüsse verleihen. Duale und berufsbegleitende Bachelor- und Masterstudiengänge, wie sie an Fachhochschulen bereits bestehen, sind auf dem Wege zu solchen Vollzeitstudiengängen der erste Schritt. Die Berufsakademien in Deutschland haben einerseits gezeigt, dass Modelle dieser Art realisierbar sind und auch vor den europäischen Anerkennungsrichtlinien bestehen können. Andererseits besteht die Gefahr, dass die Bewerber/Bewerberinnen aus bildungsbenachteiligten Schichten ohne eingehende Beratung und tutorielle Unterstützung diesen Weg nicht gehen. Eine generell stärkere Einbeziehung von Praxisbezügen in Universitätsstudiengänge könnte der verbreiteten Minderbewertung des Lernens in der Praxis entgegenwirken.

Den längeren und schwierigeren, in den letzten vierzig Jahren erfolglos verfolgten Weg stellt die Anerkennung beruflicher Qualifikationen auf die traditionellen Hochschulstudiengänge dar. Unter dem Druck der europäischen Bildungspolitik, die eine stärkere Arbeitsmarktorientierung und Durchlässigkeit der Bildungssysteme einfordert, bilden sich neue Qualifizierungswege heraus, die zu einer stärkeren Verschränkung von Arbeiten und Lernen führen. Die universitären Studiengänge sind hier defizitär und sollten in diese Richtung weiterentwickelt werden. Die Fortbildungsebenen qualifizierter Ausbildungsberufe des dualen Systems wie MechatronikerIn und die IT-Berufe erreichen Bachelor-Niveau. Die Anerkennung ihrer Gleichwertigkeit mit dem entsprechenden Hochschulabschluss ist qualitativ gerechtfertigt und für die internationale Anerkennung der Abschlüsse des deutschen Berufsbildungssystems unabdingbar.

Bestehende rechtliche Hindernisse sind zu beseitigen: So ist der formale Status weiterbildender und berufsbegleitender Studiengänge als wissenschaftliche Weiterbildung auch ohne vorherigen Bachelorabschluss anzuerkennen. Darüber hinaus sind verbindliche Anrechnungsverfahren beruflicher Kompetenzen auf Hochschulstudiengänge einzurichten; es sei denn, man zieht eigenständige berufliche Studiengänge vor.


Weiterbildung mit System ausbauen

Neben den erforderlichen Strukturen bedarf ein Bildungssystem, das Chancengleichheit gewährleistet, ein umfassendes Fördersystem. Wir empfehlen in Anlehnung an die Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens aus dem Jahr 2004, alle Förderleistungen der öffentlichen Hand in einem Bildungsförderungsgesetz zu regeln. Dies bedeutet, alle bestehenden Förderinstrumente wie BAfög, AFBG und Berufsausbildungsbeihilfe, aber auch Kindergeld und Kinderfreibeträge in einem Gesetz zu regeln, neu zu ordnen und auf die frühkindliche Erziehung wie auf das lebenslange Lernen auszuweiten. Zur Ausweitung gehören die Förderung des Studiums neben und nach dem Beruf sowie die (Wieder-)Einführung des Schüler-BAfög. Nur wenn unser Land im Wettbewerb der Bildungsinvestitionen an die Spitze der internationalen Gemeinschaft zurückkehrt, wird es die Zukunft der nachwachsenden Generation sichern und seine wirtschaftlichen, friedensstiftenden und umweltschützenden Ziele erreichen können.

Es ist für die Nutzungsmöglichkeiten von Weiterbildung notwendig, mindestens einen Rahmenbereich in gesetzlichen Regelungen des Bundes zusammenzufassen. Weitergehende arbeitsmarkt- und arbeitszeitpolitische Regelungen bedürfen tarifvertraglicher, betrieblicher oder einzelarbeitsvertraglicher Vereinbarungen. Bestehende Regelungen sollten auf eine gemeinsame Grundlage gestellt und ausgebaut werden.


Quelle: Bildungsprivilegien für alle! Berufs-Bildungs-Perspektiven 2009


Sie können die vollständige Broschüre hier als pdf-Datei herunterladen.


Verweise zu diesem Artikel:
Schlagworte zu diesem Beitrag: Lebenslanges Lernen
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 03.07.2009

Quelle: www.netzwerk-weiterbildung.info
Druckdatum: 19.03.2024