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Der Kurs im eigenen Kiez

Die Sozialraumanalyse ergründet, wer sich warum wo weiterbildet

Vom Computerlehrgang bis zum Töpferkurs ist im Programm von VHS und Familienbildungsstätten eigentlich für jeden was dabei. Aber nicht jeder geht hin. Die Frage, wer warum teilnimmt und wer es warum nicht tut, beschäftigt Bildungsforscher. Ihre These: Neben dem sozialen Status zählen auch die räumliche Nähe zur Weiterbildungseinrichtung und viele weitere Faktoren bis hin zur mentalen Zugehörigkeit zu einem Stadtviertel.

Weiterbildung umfasst im weitesten Sinne alles, was Industrie- und Handelskammer (IHK), Handwerkskammern und Betriebe, aber auch Volkshochschulen (VHS) und Familienbildungsstätten anbieten. Im Prinzip stehen solche Angebote zumindest Teilweise jedem offen. Dass jedoch nicht alle davon Gebrauch machen, ist lange bekannt. So nutzen nur 31 Prozent der Arbeiter Weiterbildungsangebote, aber 55 Prozent der Angestellten und 68 Prozent der Beamten. „Die Bereitschaft zur Teilnahme an Weiterbildung aber nur am beruflichen oder sozialen Status festmachen zu wollen, ist zu kurz gegriffen“, sagt PD Dr. Michael Schemmann. Er hat zusammen mit Prof. Dr. Jürgen Wittpoth vom Lehrstuhl für Erwachsenenbildung der Ruhr-Universität das Weiterbildungsverhalten der Bochumer Bevölkerung näher untersucht. Dazu hat er die Belegdaten der VHS und der Familienbildungsstätten Bochums mit einer Sozialraumanalyse der Stadt abgeglichen und analysiert. In der Sozialraumanalyse von Emanuel Hartkopf wurden zunächst die 30 Stadtviertel anhand von Daten wie Ausländeranteil, Sozialhilfequote

Mehr Gründe für Teilnahme als nur die soziale Lage


und Arbeitslosenanteil näher gekennzeichnet und „geclustert“. Somit konnte jedes Viertel einer von fünf Stufen zugeordnet werden, von „deutlich überdurchschnittlich“ wie die südlichen Stadtteile Stiepel, Linden und Weitmar-Mark bis „deutlich unterdurchschnittlich“ wie Gleisdreieck, Hamme und Kruppwerke in der Innenstadt sowie Querenburg (s. Abb. 2). Anhand der Belegdaten von VHS und Familienbildungsstätten, insgesamt 32 256 Adressen, konnten die Bildungsforscher dann die Teilnehmenden den Stadtteilen zuordnen. Es zeigte sich, dass die Erklärung „höherer Sozialstatus = mehr Teilnahme an Weiterbildung“ nicht ausreichend ist. So kamen zum Beispiel überdurchschnittlich viele VHS-Teilnehmer aus dem Gleisdreieck in der Innenstadt, einem Stadtviertel mit deutlich unterdurchschnittlichem Sozialstatus. Aus den „besten“ Vierteln Stiepel, Linden und Weitmar-Mark kamen hingegen sehr wenige VHS-Teilnehmer (s. Abb. 2). Aber auch aus „guten“ Vierteln wie Grumme und Wiemelhausen/Brenschede (leicht überdurchschnittlich) kamen recht viele Teilnehmer, ebenso wie aus Kornharpen/Voede-Abzweig (durchschnittlich). Kurz: Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen sozialer Lage und VHS-Teilnahme lässt sich nicht feststellen.



„Allgemein hat sich gezeigt, dass die Teilnahme an den Angeboten der einzelnen Weiterbildungsträger in den Stadtteilen am höchsten ist, in denen sie beheimatet sind“, fasst Dr. Schemmann zusammen. „Das gilt auch für die Familienbildungsstätten in Langendreer, Grumme und Wattenscheid.“ Die VHS, die im Gleisdreieck gelegen ist und 80 Prozent ihrer Kurse dort anbietet, rekrutiert entsprechend ihre Teilnehmer überwiegend aus diesem und den angrenzenden Stadtvierteln, ungeachtet der dortigen sozialen Lage. Die Forscher sprechen von „Gelegenheitsstrukturen“ in einem Viertel, die zum Beispiel damit zusammenhängen, dass eine Institution im täglichen Vorübergehen sichtbar und somit im Bewusstsein der Einwohner präsent ist.

„Interessant für uns ist auch, dass die Familienbildungsstätte Getrudenhof in Wattenscheid-Mitte so gut wie ausschließlich von Bürgern aus Bochumer Stadtteilen besucht wird, die vor der Eingemeindung der Stadt Wattenscheid im Jahr 1975 zum Wattenscheider Stadtgebiet gehörten“, so Schemmann (s. Abb. 3). „Die Kategorie Raum ist also in zweierlei Hinsicht von Bedeutung für das Weiterbildungsverhalten: als räumliche Nähe und als mentale Zugehörigkeit.“

Die einzelnen Familienbildungsstätten in Bochum haben entsprechend ihr jeweils ganz eigenes Profil entwickelt – wahrscheinlich in Reaktion auf die Nachfrage im eigenen Stadtteil. „Nicht nur die Veranstaltungsräume sind den Wohnquartieren der Teilnehmenden nahe, sondern auch die Planenden den Belangen ihrer Adressaten“, so Prof. Wittpoth. Das Angebot der Familienbildungsstätten spiegelt die Bedürfnisse der Einwohner ihres Standorts wider.

Raum ist bedeutsam: Als räumliche Nähe und mentale Zugehörigkeit


Diese Ergebnisse werfen allerdings nur ein Schlaglicht auf das Problem der Gründe für Beteiligung oder Nichtbeteiligung an Weiterbildung. Warum gehen Leute in die VHS, die es entsprechend ihres Sozialstatus eigentlich nicht „dürften“? Warum bleiben andere weg, von denen man einen Besuch erwarten würde? Wie überformt der Faktor „Raum“ den Faktor „soziale Lage“? Welche Faktoren spielen zusätzlich eine Rolle? Um das näher zu untersuchen, arbeitet Dr. Schemmann zurzeit am Konzept für eine weitere Studie. Dazu will er eine repräsentative Befragung bei 5 000 Bochumer Bürgern machen, bei der er nicht nur die üblichen Sozialdaten wie Beruf, Bildungsstand, Einkommen und dergleichen erfragen, sondern auch das soziale Milieu und den sozialen Raum erkunden will, in denen die Menschen leben.



Dazu gehören zum Beispiel Anschauungen, Meinungen, Einstellungen und soziale Aktivitäten wie die Mitgliedschaft in Vereinen oder ehrenamtliche Tätigkeiten. Dass solche Faktoren deutlichen Einfluss auf die Teilnahme an Weiterbildung haben können, haben Untersuchungen in Großbritannien und Irland gezeigt. Allerdings haben sie auch deutlich gemacht, dass sich solche Ergebnisse nicht verallgemeinern lassen: Während in der englischen Studie in Vereinen und Ehrenamt aktive Bürger auch häufiger an Weiterbildung teilnahmen, war in der irischen Studie das Gegenteil der Fall: „Die Leute waren durch ihre sozialen Tätigkeiten wahrscheinlich so ausgefüllt, dass sie Weiterbildung nicht mehr ‚nötig’ hatten“, mutmaßt Dr. Schemmann. Überhaupt gelte für Sozialraumanalysen immer: Jedes Viertel ist anders. Auch das sei ein Problem bei den bisherigen Untersuchungen, denn

Für Sozialraumanalysen gilt: Jedes Viertel ist anders


durch die „Clusterung“ wurde das Viertel als Summe seiner Einzelteile betrachtet. Dabei kann es zwischen Stadtteilen mit gleicher Zuordnung nach sozialer Lage große Unterschiede geben, etwa im sozialen Milieu oder im Umgang miteinander. „Letztlich kann man den sozialen Raum herunter brechen bis auf die Ebene einzelner Straßenzüge“, erklärt der Bildungsforscher.


Quelle: Rubin 2008, Zeitschrift der Ruhruniversität Bochum


Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 21.05.2008

Quelle: www.netzwerk-weiterbildung.info
Druckdatum: 28.03.2024