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Peter Faulstich

Lebenserfahrung Älterer als Lernvoraussetzung für gute Arbeit

In den Medien wie in der wissenschaftlichen Diskussion ist viel über den »demografischen Wandel« zu hören und zu lesen – über den steigenden Anteil älterer und den sinkenden Anteil jüngerer Menschen in unserer Gesellschaft. Dies wird dramatisiert und zu Schlagwörtern stilisiert: Der »Jugendwahn« sei zu Ende und der »Krieg der Generationen « wird ausgerufen.

Es wird sehr widersprüchlich mit dieser Problematik umgegangen. Einerseits wird eine längere und erweiterte Lebensarbeitszeit angestrebt. Die Europäische Union fordert im Rahmen der Lissabon-Strategie die Beschäftigungsquote Älterer und das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Die steigenden Kosten der Altersversorgung lassen es als unvermeidbar erscheinen, den Sozialstaat abzubauen. Die öffentlichen Leistungen werden als nicht mehr finanzierbar hingestellt. Andererseits werden ältere Jahrgänge nach wie vor aus dem Arbeitsprozess ausgegliedert, und sie werden ab 50 deutlich weniger in der beruflichen Weiterbildung berücksichtigt als jüngere Altersgruppen. Mit 50 gilt man als leistungsgemindert, lernunfähig und unvermittelbar.

Dies wird gestützt mit Hinweisen auf angeblich geringere Lern- und Leistungsfähigkeit Älterer. Die wissenschaftliche Forschung hat aber mittlerweile vielfach nachgewiesen, dass ältere Menschen deutlich länger lern- und leistungsfähig bleiben als überlieferte Vorurteile über einen physisch-psychisch bedingten Rückgang unterstellen. Trotzdem wird diese Lüge weiterverbreitet. Mitunter kommt es zu einer »Modernisierung« der Vorurteile.

Die Ausgrenzung Älterer wird nicht mehr biologisch, sondern ökonomisch begründet: Lernmöglichkeiten für Ältere werden als zwecklos, als überflüssig und somit als ungerechtfertigte Vergeudung von Ressourcen dargestellt.

Dies alles veranlasst dazu, sich mit einigen Fragen genauer auseinanderzusetzen:
  • Wie wirkt sich die Verschiebung der demografischen Struktur auf dem Arbeitsmarkt aus?
  • Welche sinnvollen und persönlichkeitsförderlichen, »altersgerechten « Arbeitsplätze werden in den Betrieben bereitgestellt bzw. neu geschaffen?
  • Welche Gestaltungsansätze einer integrierten Technik-, Organisations- und Personalentwicklung werden gesucht?
  • Wie ist es mit der Lern- und Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wirklich bestellt?
  • Wie sind staatliche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und betriebliche Personalpolitik eingebunden in eine umfassende Zeitpolitik?

Für die Beteiligten ist dies biografisch hochgradig brisant: Im Unterschied zu früheren Epochen haben die über 50-Jährigen heute und in Zukunft zunehmend noch mehrere Lebensjahrzehnte zu erwarten, und sie sind gesünder und aktiver als frühere Generationen. Ein erzwungenes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben mit 67 jedenfalls ist aus dieser Sicht genauso willkürlich wie mit 50 oder mit 70.


1. Demografischer Wandel und Arbeitsmarktprobleme

Die Verlängerung der Erwerbslebensdauer gewinnt durch den demografischen Wandel und eingreifende gesetzliche Regelungen besonders bei der Rente wachsende Bedeutung (vgl. den Beitrag von Kistler/Ebert in diesem Band). Mit dem Begriff »demografischer Wandel « wird die Veränderung der Zusammensetzung der Altersstruktur einer Gesellschaft bezeichnet. Die Entwicklung wird durch drei Faktoren beeinflusst: die Geburtenrate, die Lebenserwartung und den Wanderungssaldo.

Sinkende Geburtenraten und steigende Lebenserwartung in Deutschland führen zu einer Alterung der Gesamtbevölkerung und zu einem gleichzeitigen zahlenmäßigen Rückgang. Die Bevölkerungszahl der Bundesrepublik Deutschland wird nach Angaben des Statistischen Bundesamtes von rund 82 Millionen bis zum Jahr 2050 auf knapp unter 65 Millionen Einwohner abnehmen. Dabei ist schon ein jährlicher Wanderungsgewinn von netto 100.000 Personen unterstellt.

Dazu kommt die Strukturverschiebung durch den Wechsel der Altersanteile. Die Bevölkerungspyramide dreht sich und stellt sich auf den Kopf. Einige Zahlen: Nach der mittleren Variante der 11. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes 2006 wird die Zahl der über 65-Jährigen von 15,9 auf 22 Millionen im Jahr 2030 ansteigen, bei schrumpfender Gesamtbevölkerung wird sich der Anteil von 19,3 auf 27,9% erhöhen. Der Anteil der Personen bis 65 Jahren sinkt demgegenüber von über 60% auf 55%. Dieser Umbruch setzt sich dann noch stärker fort, wenn die Baby-Boomer, die geburtenstarken Jahrgänge, ausscheiden.



Projektionen verdeutlichen zusätzlich, dass sich im Rahmen der Gesamtbevölkerung die Erwerbsbevölkerung in ihrer Struktur und Anzahl so verändert, dass in Zukunft immer weniger Menschen im Erwerbsleben stehen und die Menschen insgesamt immer älter werden. Die Zahl jüngerer Erwerbstätiger geht zurück. Die Erwerbsquote von 55-65 lag 2005 mit 52% deutlich unter der aller Personen im erwerbsfähigen Alter (15-65) mit 73%. Das Erwerbspersonenpotenzial (15- bis 64-Jährige) wird von heute 55 auf 44 Millionen im Jahr 2050 sinken. Das ist ein Rückgang um 20%. Es werden jährlich mehr Menschen aus dem Erwerbsleben ausscheiden als einsteigen. Bezogen auf die Alterszusammensetzung sinkt, wenn sich dies in den Betrieben fortsetzt, die Zahl der Nachwuchskräfte, und die Belegschaften werden immer älter (vgl. Bellmann/Leber in diesem Band).

Allerdings gilt die These, dass die Belegschaften »ergrauen«, nicht automatisch. Zwar stimmt es, dass das Erwerbspersonenpotenzial insgesamt älter wird, ob dies aber auch auf die einzelnen Belegschaften zutrifft, lässt sich empirisch nicht direkt ableiten, sondern hängt ab von der gesamten Arbeitsnachfrage, der jeweiligen Personalpolitik der Unternehmen und den politischen Vorgaben vor allem bei den Renten. Es gibt ein demografisches Erwerbsparadoxon: Obwohl zweifellos die Gesamtgesellschaft und die Erwerbsbevölkerung altern, werden Teilsegmente, Betriebsbelegschaften, immer noch jünger. Der Rest wird als überflüssig ausgegrenzt.

Arbeitsmarktexperten erwarten allerdings, dass sich dieses Paradoxon auflösen wird, die Betriebsebene erreicht und dann eine problematische Situation für die Personalpolitik eintritt, die sich schon ankündigt. Wenn die Erwerbsbevölkerung von 2000 bis 2060 um knapp ein Fünftel abnimmt, werden sich die Betriebe in ihrer Personalpolitik und -planung strategisch auf Betriebsverbleib, Rekrutierung und Qualifizierung älterer Beschäftigter einstellen müssen, um die Herausforderungen älterer und anders zusammengesetzter Belegschaften (mehr Frauen, mehr Ausländer) zu bewältigen. Allerdings setzt dies voraus, dass die Nachfrage nach Arbeit so stark sein wird, dass sie bei insgesamt rückläufigem Erwerbspersonenpotenzial auch ältere Arbeitskräfte einbezieht. Die Arbeits- und Sozialpolitik hat jedenfalls schon eine Trendwende vollzogen: von der Frühverrentung hin zur Weiterbeschäftigung Älterer.

Zugleich besteht die andauernde Gefahr, dass hohe und lang anhaltende Altersarbeitslosigkeit und die daraus resultierende Altersarmut – insbesondere der »arbeitsmarktfernen« Personen – noch weiter steigt. Gefragt sind also neue Arbeitsfähigkeits- sowie Weiterbildungskonzepte für die Integration in den Arbeitsmarkt der Zukunft. Berücksichtigt man, dass der Anteil der 55-Jährigen und Älteren in der Bevölkerung rund 31% beträgt, unter den Erwerbstätigen aber lediglich etwa 12%, bestehen zumindest rechnerisch noch große Potenziale, um die Beschäftigung von Älteren zu steigern.



2. Bleibende Arbeitsfähigkeit und beschränkte betriebliche
Einsatzmöglichkeiten


Alle Strategien zur Lebensarbeitszeit hängen davon ab, inwieweit die Arbeitsfähigkeit andauert und entsprechende Arbeitsplätze angeboten werden. Im Rahmen betrieblicher Personal- und Organisationsentwicklung ist es wichtig, Kriterien für die Gestaltung zu entwickeln, die sowohl die Bedürfnisse und Kompetenzen älterer Beschäftigter als auch den Wissens- und Erfahrungstransfer im Rahmen alternder Belegschaften berücksichtigen. Dies ist Aufgabe des Personalmanagements und auch der Betriebsräte (vgl. den Beitrag von Eva Kuda in diesem Band).

Es gibt aber in den Köpfen der Personalmanager in den Unternehmen eine Reihe von Pauschalthesen über Vor- und Nachteile älterer Beschäftigter (siehe Abbildung 2). Besondere Stärken älterer Arbeitnehmer liegen demnach im Erfahrungswissen, in ihrer hohen sozialen Kompetenz, ihrer Geübtheit, ihrer Verantwortung und Zuverlässigkeit, oft in ihrer Loyalität durch Identifikation mit Unternehmenszielen und ihrer Einsatzbereitschaft. Die Attraktivität älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für Betriebe und Unternehmen wird zusätzlich dadurch erhöht, dass die Bedeutung körperlicher Risiken aufgrund der Technisierung, der Automatisierung und der Hinwendung zu einer Dienstleistungsgesellschaft nachgelassen hat.

Allerdings sind dies, wenn die Vor- und Nachteile für alle Älteren als gleichermaßen gültig unterstellt werden, eben Vorurteile: Eine sehr unterschiedlich zusammengesetzte Gruppe wird über einen Kamm geschoren. Im jedem einzelnen Fall sind die jeweiligen älteren Beschäftigten anders und ihre Kompetenzen sind sehr differenziert. In verschiedenen Branchen und Berufen, in unterschiedlichen Betriebsgrößen und nach entsprechenden Arbeits- und Lernerfahrungen, gibt es bei einzelnen Personen ein breites Kompetenzspektrum. (Ausführlich setzen sich Andreas Kruse und Eric Schmitt im vorliegenden Buch mit der Frage der Kompetenz Älterer auseinander.)

Zusätzlich zu individuellen Unterschieden ist die Situation Älterer im Betrieb nach wie vor von einer tiefen, arbeitsrechtlich und tariflich bedingten Spaltung zwischen Arbeitern und Angestellten geprägt: Während ältere Angestellte in der Mehrheit eher optimistisch oder zumindest mit einer stabilen Erwartungshaltung in die Zukunft blicken, dominiert bei Arbeitern und Arbeiterinnen eine resignative Grundhaltung.

Sie geraten zwischen die Mühlsteine einer Arbeitsintensivierung mit entsprechenden Auswirkungen auf Gesundheit und Leistungsfähigkeit einerseits und Lohnkostendruck durch Konkurrenz, Subunternehmen und Leiharbeit andererseits. Besonders problematisch ist die Situation dort, wo es durch zunehmende Automatisierung zu einer Ausdünnung anspruchsvoller Tätigkeitsinhalte gekommen ist, wodurch Ältere leicht durch ungelernte jüngere und/oder billigere Arbeitskräfte ersetzt werden können. Umgekehrt kann der technologische Wandel aber auch dazu führen, dass Älteren weniger zugetraut wird (Schönbauer 2006: 71).

Ein angemessenes »Age-Management« muss sich auf diese Unterschiedlichkeit einstellen. Nachteile älterer Beschäftigter gelten nicht allgemein – sie beziehen sich stets auf bestimmte Arbeitsanforderungen. Ein bestimmter Gesundheitszustand z.B. folgt nicht zwangsläufig aus dem kalendarischen Alter, sondern ist in der Mehrheit der Fälle Konsequenz erlebter Belastungen und Einschränkungen. Altergerechte Personalstrategien kommen dann nicht umhin, zu differenzieren und sogar zu individualisieren. Insgesamt – auch für andere Gruppen der Belegschaften – ist eine differenzierte, personalorientierte Arbeitspolitik angesagt, die den verschiedenen Beschäftigten im Betrieb gerecht wird.

Angesichts des demografischen Wandels werden die Unternehmen und Betriebe sich in Zukunft nicht mehr leisten können, auf die Leistungsfähigkeit älterer Beschäftigter zu verzichten. Sie werden Produktivität und Innovationsfähigkeit ohne eine stärkere Nutzung der Potenziale Älterer nicht aufrechterhalten können. Mit der Verlängerung der Lebensarbeitszeit – nicht zuletzt durch die politisch erwünschte abnehmende Zahl der Frühverrentungen – und einem längeren Verbleib im Betrieb werden Angebote zur Erhaltung der beruflichen Leistungsfähigkeit und zur gezielten Nutzung der Stärken älterer Beschäftigter an Bedeutung gewinnen.

Vorrausetzung dafür ist aber, dass die Arbeitstätigkeiten im Betrieb eine sinnvolle Perspektive bieten. Die Relevanz der Arbeit für die Entwicklung der Persönlichkeit wird – gerade angesichts wachsender Bedrohung durch Arbeitsverlust und Erwerbslosigkeit – deutlich:
  • Teilhabe an der gesellschaftlichen Arbeitsteilung,
  • Beteiligung an der Erstellung nützlicher Güter und Dienstleistungen,
  • Entfaltung der Kompetenzen,
  • Vorgaben der Strukturen der Lebenszeit,
  • Zuweisung der Einkommen,
  • Einordnung des Prestiges und des sozialen Status,
  • Möglichkeiten der Interaktion und Kommunikation,
  • Grundlage des Systems gesellschaftlicher Normen und Werte.

Persönlichkeitsförderlichkeit ist angesichts der hohen Bedeutung der Arbeit für die menschliche Identität das zentrale Kriterium der Bewertung von Arbeitsbedingungen. Der Arbeitspsychologe Walter Volpert (1990: 23-40) hat entsprechende Aspekte persönlichkeitsförderlicher Arbeitsbedingungen zusammengestellt:
  • Erweiterung der Handlungsspielräume,
  • Angemessene Zeitspielräume,
  • Durchschaubarkeit der Arbeitsbedingungen,
  • Abbau von Behinderungen,
  • Ermöglichung sinnlicher Erfahrung,
  • Rücksichtnahme auf soziale Situationen,
  • Öffnung für soziale Kontakte,
  • Einräumen unterschiedlicher Umsetzungsformen.

Vergleicht man diese Humankriterien mit den vorhandenen Arbeitsplätzen, wie sie z.B. im DGB-Index »Gute Arbeit« für 2007 erhoben worden sind, gibt es erhebliche Diskrepanzen: 77% fehlt Sinn in ihrer Arbeit, 76% wünschen mehr Kollegialität, 71% mangelt es an emotionalen Bezügen, bei 67% fehlt der Informationsfluss, 66% sehen eingeschränkte Kreativität, 66% finden die Arbeitszeit schlecht, 63% beklagen sich über den Führungsstil, 60% können die Arbeitsgestaltung kaum beeinflussen, 60% empfinden eine negative Unternehmenskultur usw. Zusammenfassend kommt der DGB-Index zu einem Anteil von 34% schlechter und 54% mittelmäßiger Arbeit. Dies betrifft alle Arbeitsplätze, umfasst also ebenso die Tätigkeiten Älterer. Auch die »Initiative Neue Qualität der Arbeit« gibt ihrer Studie »Was ist gute Arbeit« die zusammenfassende Überschrift: »Mehrzahl der Arbeitsplätze wird für ›schlecht‹ befunden«. Die Attraktivität eines Verbleibs im Betrieb und in der Erwerbsarbeit ist also erheblich eingeschränkt. Um dies zu verändern, muss in den Betrieben viel geschehen, damit nicht ein grundsätzlich positiver Wunsch zum Verbleib in Arbeit in Flucht aus dem Erwerbsleben umschlägt.


3. Humane Organisations-, Personal- und Kompetenzentwicklung

Zukünftige Personalstrategien müssen insofern auf Altersmischung, Austausch zwischen den Generationen, vernetzte Strategien der Rekrutierung, Personalentwicklung, auf Arbeitsschutz, bis hin zur Technikentwicklung und Anforderungen an Bedienbarkeit abstellen. Vorausgesetzt ist, dass der Prozess des Alterns im Betrieb nicht naturwüchsig abläuft, sondern flexibel und gestaltbar ist. Handlungsfelder auf betrieblicher Ebene sind vielfältig (siehe Abbildung 3). Dabei steht die Personalentwicklung im Zentrum betrieblicher Umstellungsprozesse. Im Rahmen der »alternden Gesellschaft« hängt die Wirtschaftskraft der Unternehmen von der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der Belegschaften ab. »Lebenslanges Lernen« kann deshalb nicht länger nur Schlagwort bleiben, sondern seine Umsetzungsnotwendigkeit wird deutlich. Weiterbildung stellt in diesem Kontext keine isolierte Strategie dar, sondern ist einzubinden in umfassende Konzeptionen der Unternehmensentwicklung. Gerade bei der Weiterbildung älterer Arbeitnehmer weist Deutschland ein besonders großes Defizit auf. Obwohl diese eine entscheidende Rolle spielt, um leistungs- und konkurrenzfähig zu bleiben, sind Konzepte für lebenslanges Lernen hierzulande wenig verbreitet (vgl. Gnahs in diesem Band).



Das Berichtssystem Weiterbildung IX weist aus: Bundesweit hat sich im Jahr 2003 nur knapp jeder dritte 50-64-Jährige an Weiterbildungen beteiligt (31%). Dagegen waren es von den 35-49-Jährigen und den 19-34-Jährigen jeweils 46%. 35-49-Jährige nehmen am häufigsten an beruflicher Weiterbildung teil (31%), während sich in der allgemeinen Weiterbildung die höchste Beteiligung bei den 19-34-Jährigen zeigt (29%). Mit Abstand die geringsten Teilnahmequoten in beiden Weiterbildungsbereichen zeigen die 50-64-Jährigen, wobei der Unterschied zu den jüngeren Gruppen bei der beruflichen Weiterbildung noch größer ist als bei der allgemeinen Weiterbildung (Kuwan u.a. 2006: 90). Vor allem im Hinblick auf die Beteiligung an beruflicher Weiterbildung ist bei den 60-64-Jährigen deren niedrigere Erwerbsquote zu berücksichtigen. Da viele Ältere schon aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind, ist die Beteiligungsquote bezogen auf die Altersgruppenquote noch wesentlich geringer.

Ungeachtet des demografischen Wandels und des Weiterbildungsdefizits tun die Unternehmen in Deutschland nach Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bislang nur wenig für ihre älteren Mitarbeiter. Der Anteil der Betriebe, die gezielt Maßnahmen für Ältere anbieten, ist zwischen 2002 und 2006 sogar von 19 auf 17% zurückgegangen (Bellmann u.a. 2007; vgl. auch Bellmann/Leber in diesem Band). Um die Arbeitsfähigkeit der Mitarbeiter zu erhalten, müssten die Unternehmen aber deutlich mehr in Gesundheitsförderung, Weiterbildung und Motivationsförderung investieren.


4. Sinnvolles Lernen

Damit stoßen wir wieder auf das Problem der Lernfähigkeit Älterer. Um die Lernmöglichkeiten älterer Erwachsener auszuloten, bedarf es einer angemessenen Lerntheorie. Die verhaltenswissenschaftlichen, mechanistischen Modelle der traditionellen Lernpsychologie, die von Ratten und Tauben auf Menschen schließt, helfen dabei wenig.
  • Eine angemessene Lerntheorie muss die Besonderheit menschlichen Lernens gegenüber anderen »lernenden Systemen« deutlich machen. So ist es notwendig, einzusehen, dass menschliches Lernen auch in der Freiheit besteht, nicht zu lernen. Dies äußert sich dann von außen gesehen in Lernwiderständen (Faulstich 2006); es ist aber aus Sicht des lernenden Subjekts immer begründet bzw. sinnbezogen – oder eben nicht.

  • Eine angemessene Lerntheorie muss der Komplexität menschlicher Lernformen gerecht werden. Dagegen ist es unangemessen, das Lernen von neuronalen Schaltungen, von Amöben, von Ratten und von Menschen in eine reduktionistische, verkürzend auf Verhaltensbeobachtung abgerichtete Lerntheorie zu pressen. Das Verständnis menschlichen Lernens muss vom Menschen selbst ausgehen.

  • Handeln in der Erziehungswissenschaft ist zentrale Lehre. Dies hat lange dazu geführt, dass einlinige instruktionspsychologische Konzepte dominierten. Es soll das gelernt werden, was gelehrt werden kann. Dies ist ein gewaltiger Fehlschluss. Lehren und Lernen finden in verschiedenen Welten unterschiedlicher Menschen statt. Demgegenüber muss eine angemessene Lerntheorie ein reflexives Vermitteln zwischen Lernenden, Themen und Lehrenden stützen.

Die verhaltenswissenschaftlichen Lerntheorien, welche die Lehrbücher der Psychologie und Erziehungswissenschaft beherrschen (z.B. Mielke 2001), leisten dies nicht. Dort werden immer noch wissenschaftlich fragwürdige Thesen über Lernfähigkeitskurven verbreitet, wie sie sich z.B. in der Adoleszenz-Maximum-Hypothese niederschlagen, der Behauptung, dass man im Jugendalter am besten lerne. Im Alltag hört man das Sprichwort: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Die wissenschaftliche Stütze für dieses Argument sind Experimente und Messungen über das Lernen sinnloser Silben. Diese beschränkte Fähigkeit, die nachweisbar bei Erwachsenen nachlässt, wird als allgemeine Lernfähigkeit hochstilisiert. Dabei wird unterschlagen, dass bei anderen Lernaufgaben Erwachsene Vorteile zeigen und dass sie eben weniger als Kinder und Jugendliche bereit sind, sich sinnlosen Anforderungen zu stellen.

Es geht einer angemessenen Lerntheorie um ein Orientieren des Handelns, um Probleme zu lösen, z.B.: Ich will dieses Textverarbeitungssystem beherrschen. Beim Handeln tauchen Problemkonstellationen auf, welche Unsicherheit erzeugen, Erstaunen auslösen und Suchen anspornen: Ich will Umbrüche in den Tabellen verhindern, schaffe es nicht, will es aber können. Lernen sucht Neues. Im Denken wird dann – dadurch ausgelöst – Bekanntes reorganisiert. Ich erweitere mein Wissen um die Funktion »Format« im Programm word. Lernen ist dem gemäß gebunden an aneignende Erfahrung bei verändernder Gestaltung.

Die aus der Sinnhaftigkeit und Wahlfreiheit menschlichen Handelns resultierende Unverfügbarkeit des Entscheidens, Denkens und Handelns hat Klaus Holzkamp (1993) in seiner »subjektwissenschaftlichen « Lerntheorie aufgenommen und erkenntnistheoretisch durch einen Übergang vom »Bedingtheits-« zu einem »Begründungsdiskurs« vollzogen. Holzkamp vollzieht eine entscheidende Wende in der grundlegenden Denkfigur: Er redet über Lernen nicht als durch äußere Reize verursacht, also bedingt, sondern er fragt, warum Menschen lernen, also nach Gründen. Lernen wird dann nicht mehr als von außen beobachtetes Verhalten, sondern als sinnhaftes Handeln begriffen. (Ausführlicher haben wir dies dargestellt als Handlungshilfe für Betriebsräte in Faulstich/Grell/Grotlüschen 2005.)

Bedeutungshaftigkeit ist derjenige Aspekt von Welt, durch den die se für die Lebensinteressen des Individuums relevant und damit als Lernthematik zugänglich wird. In Bedeutungskontexten werden Wissensstrukturen und Kompetenzen aufgebaut, welche eine erweiterte Weltverfügung ermöglichen. Daraus ergeben sich Grundzüge einer kritisch-pragmatistischen Lerntheorie (Faulstich 2005). Diese argumentiert auf der Ebene von menschlichem Lernen als bedeutungsgeleitetem Handeln.

Situativität durch Körpergebundenheit und Lebenserfahrung beim Lernen

Die lernenden Individuen sind immer in einem konkreten, körpergebundenen und biografischen Kontext verortet (situiert) – lernen also in jeweils bestimmten Lebensverhältnissen: Individuelle Erfahrungen sind gekennzeichnet durch Körperlichkeit, Sprachlichkeit und Biografie.

Man darf nicht unterschlagen, dass Menschen keine vernünftigen Geistwesen sind, die schwebend im All Argumente austauschen. Der reale Lebensprozess umfasst drei zentrale Dimensionen: Wollen, Fühlen und Begreifen. Man muss sich der Tatsache stellen, dass die lernenden »Subjekte« nicht nur Denkleistungen vollziehen, sondern immer rückgebunden sind in ihre eigene Körperlichkeit. Meine Fähigkeit, z.B. Hochspringen zu lernen, ist durch fehlendes Training verarmt. Alles Lernen verläuft vor dem Hintergrund eigener leiblicher Erfahrungen. Deshalb ergeben sich Behinderungen, Grenzen der Verfügung, Undurchschaubarkeiten und Widerständigkeiten. Ich muss mich damit abfinden, dass ich nicht mehr Weltmeister im 100-Meter-Lauf werden kann. Wir haben nicht Körper, sondern wir leben als Körper.

Im Körper sammeln sich die Erfahrungen unseres Lebens. Er legt den Ort fest, von dem aus Handeln erfolgen und also auch Lernen möglich werden kann. Es geht darum, die Individuen im historisch bestimmten ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Kontext zu begreifen. Es war im Umfeld meiner Familie nicht üblich, Boxen zu lernen. Jetzt ist es – jedenfalls für Profisport – zu spät. Hier greift das Konzept Biografie, das meine gegenwärtige Befindlichkeit in Bezug setzt zu ihrer Gewordenheit in bestimmten Lebensverhältnissen. Klaus Holzkamp bezeichnet dies als »personale Situiertheit«:

»Dazu gehören natürlich auch mein Alter, Geschlecht, Wohnort, Beruf, meine soziale Stellung, aber nicht als bloß äußerliche Kennzeichen, sondern einbezogen in meinen konkreten individualgeschichtlichen Erfahrungshintergrund, von dem aus sie gewichtet, akzentuiert, eingefärbt sind.« (Holzkamp 1993: 263) Entscheidend sind permanente Reinterpretation, Selektion und Modifikation, auch Neubewerten und Vergessen von Erfahrungen. Die jeweils aktuelle Vergegenwärtigung stiftet Zusammenhänge und gibt den Zufälligkeiten im Lebenslauf Sinn. Die so immer wieder neu hergestellte biografische Identität macht die Gerichtetheit (Intentionalität) der Weltbezüge aus.

Situiertheit Erwachsener

Wenn handelnde Menschen als Intentionalitätszentren aufgefasst werden, welche ihre Interessen auf »Welt« richten, so sind diese also immer schon eingebunden in Körperlichkeit und Biografie. Hindernisse beim Lernen können nicht nur aus den Schwierigkeiten der Thematik resultieren, sondern es könnte auch an mir liegen. Es tauchen Zweifel auf:

»›Kann‹ ich dieses oder jenes lernen, heißt so etwa auch: Traue ich es mir von da aus, wo ich jetzt stehe, zu, will ich es mir (noch) zutrauen, d.h. zumuten? Dabei nicht nur: Will ich es überhaupt lernen, sondern: Kann ich es überhaupt lernen wollen? Weiterhin: Ist das, was ich da lernen soll/will, überhaupt ›mein Ding‹, liegt es mir, steht es mir zu oder an, passt es zu mir? Ist die Zeit dafür nicht vorbei, habe ich die Möglichkeit, dies (noch) zu lernen, nicht endgültig verpasst?« (Holzkamp 1993: 265): Das mit dem Computer lerne ich nicht mehr. Ich kann das nicht und es lohnt sich für mich auch nicht.

Solche Fragen zeigen, dass es nicht um eine abstrakte Lernfähigkeit geht, sondern um die Sinnhaftigkeit von Lernanstrengungen vom Standpunkt der Lernenden selbst. Gleichzeitig wird, wenn es um das Lernen Erwachsener geht, deutlich, dass ein passives pipeline model von Wissensfüllen in leere Köpfe skurril ist. Bei Erwachsenen ist von Anfang an klar, dass sie in vielfältigen Kontexten stehen, Situationen unterschiedlich wahrnehmen und in ihrer Biografie eigene Vergangenheit verarbeiten. Erwachsenenlernen kommt nicht aus ohne Rückbezug auf Lebens-, insbesondere auf Lernerfahrungen aus Kindheit, Schule, Arbeitsplatz, Familie usw. (»In der Schule war ich nie gut.« »Meine Mutter hat mir immer bei den Hausaufgaben geholfen.« »Bei der Lehre hat der Meister uns dauernd verarscht.«) Lernen ist immer schon Anschlusslernen an vorher Gelerntes. Erwachsene haben vielfältige, verschiedene und unterschiedlich geordnete Erfahrungen. An diese muss Lernen anknüpfen.

Allerdings bedeutet das nicht, dass bei Erwachsenen nicht besondere Lernwiderstände auftreten können. Aussagen über »Lernfähigkeit« im Erwachsenenalter müssen Konsequenzen des Biografieverlaufs und körperlicher Alternsprozesse berücksichtigen. Es ist zu unterscheiden zwischen der physischen Dimension des Alterns, der psychischen Dimension des Entwickelns und der sozialen Dimension des Einbezugs. Zu konstatieren ist aber vorab, dass sogar schon die Funktions- und Adaptionsfähigkeit des menschlichen Organismus bis ins hohe Alter große interindividuelle Unterschiede aufweist. Diese beziehen sich auch auf Lernen. Vorgängige Lebens- und Lernerfahrungen wirken fort. Zum einen gibt es eine Lernmüdigkeit, wenn negative Resultate aus schulischer Vergangenheit und milieuspezifische Kontexte verarbeitet werden müssen. Einer der problematischsten Hintergründe sind die Schulerfahrungen: Im Unterricht habe ich mich immer gelangweilt. Ich habe dieses Lernen satt. Soll ich denn nun wieder die Schulbank drücken?

Zum andern entstehen Lernschwierigkeiten, wenn die Sinnhaftigkeit von Lernbemühungen und -anstrengungen nicht nachvollziehbar ist. Wofür brauche ich das noch? Was habe ich davon? Daraus ergeben sich Einflüsse auf die Lern- und Gedächtnisleistungen (z.B. Kruse/Rudinger 1997: 63 und Kruse/Schmitt in diesem Band):
  • Störanfälligkeit durch verteilte Aufmerksamkeit,
  • Unsicherheit aufgrund von Versagensängsten,
  • Ausweichen gegenüber Zeitdruck,
  • fehlende Übung,
  • unzureichende Selbsttätigkeit beim Lernen,
  • mangelnde Vertrautheit mit den Lernaufgaben,
  • Unüberschaubarkeit der Lernaufgaben,
  • fehlende Erfolgserwartungen,
  • schlechter Gesundheitszustand,
  • Ermattung und Ermüdung.

Es lassen sich drei Syndrome von Lernhaltungen kennzeichnen:
  • lernentwöhnt: geringes Vertrauen in die eigene Lernfähigkeit, Mangel geeigneter Lernstrategien, unangemessene Ansprüche;
  • lernverweigernd: »misserfolgsmotiviert«, Mangel an Kontrollstrategien, erlebter Mangel an Unterstützung;
  • lerngehemmt: Mangel an Selbstvertrauen.

Alle diese Lernschwierigkeiten können weitgehend kompensiert werden. Fähigkeiten müssen gebraucht und sinnvoll eingesetzt werden. Schon bei dem berühmten griechischen Arzt Hippokrates (460-377 v. Chr.) findet sich die wichtige Einsicht: »Alle Teile des Körpers, die zu einer Aufgabe bestimmt sind, bleiben gesund, wachsen und haben ein gutes Alter, wenn sie mit Maß gebraucht werden und in den Arbeiten, an die jeder Teil gewöhnt ist, geübt werden. Wenn man sie aber nicht braucht, neigen sie eher zu Krankheiten, nehmen nicht zu und altern vorzeitig.« In der Medizin wird dies modern »Dis-Use-Hypothese « genannt: Was nicht gebraucht wird, verkümmert. Hier hat das Sprichwort eher recht: Wer rastet, der rostet. Dies gilt selbstverständlich auch für Lernfähigkeit. »Lebenslanges Lernen« setzt voraus, dass man gelernt hat zu lernen. Allerdings darf nicht unterschlagen werden, dass an vielen industriellen Arbeitsplätzen immer noch Lernen kaum nötig oder sogar wenig erwünscht ist. Die geistigen Fähigkeiten, die benötigt werden, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln den Arbeitspatz zu erreichen, sind höher als die in der Arbeitstätigkeit gebrauchten. Es geht also gerade für Ältere darum, lernförderliche Arbeitsplätze zu schaffen. Um seine eigenen Interessen zu verwirklichen und seine Kompetenzen zu stärken, ist Weiterbildung dann erst sinnvoll.

Entscheidend ist die Frage, welcher Sinn dem Lernen zugewiesen wird. Meist sind Erwachsene weniger als Kinder bereit, sich auf Lernen als sinnloses Spiel einzulassen. Lernen im Erwachsenenalter ist stärker noch als in Kindheit und Jugend gebunden an vielfältige Kontexte von Lebensereignissen und Übergängen, von Erfahrungen und Erwartungen. Begründungen für Lernbemühungen ergeben sich aus der Erwartung, die Diskrepanz zwischen dem, was ich kann, und dem, was ich können möchte, aufzulösen.

Pointe: Bedeutsamkeit als Lernanlass

Zentrales Moment für gelingendes Lernen im Erwachsenenalter ist also die Bedeutsamkeit der Thematik für die Lernenden selbst. Aufgrund der angesammelten Lebenserfahrung und meiner körperlichen Verfassung entscheide ich jeweils selbst, was für mich wichtig ist. Ausgehend von meinen Lebensinteressen bewerte ich Lernprobleme gemessen an der vorausschauenden Erwartung erweiterter Handlungsmöglichkeiten: Was ist besser, wenn ich das gelernt habe? Eine solche Vorstellung von Lernen zur Entfaltung als verfügungserweiternder Aneignung – expansives Lernen – ist anschlussfähig an den traditionellen Begriff von Bildung. Mit der von Klaus Holzkamp (1993) vorgeschlagenen Unterscheidung von »expansivem« (verfügungserweiterndem) und »defensivem« (erzwungenem) Lernen wird ein inhaltlich gefasstes Kriterium aufgespannt (Faulstich/Ludwig 2004). Es geht um die Bedeutsamkeit einer erfahrenen Problematik für die Lernenden selbst, um Eigensinn und eigene Unverfügbarkeit.

Die Lernbereitschaft älterer Beschäftigter hängt also wesentlich davon ab, inwieweit eine mögliche Arbeitstätigkeit für sie bedeutsam ist, und ob sie die dazu angemessenen Lernbemühungen als sinnhaft ansehen. Für eine demütigende, knechtende und bloß ausbeutende Arbeitstätigkeit ist zu Recht keiner bereit, sich im Lernen anzustrengen. Es entwickeln sich berechtigte Lernwiderstände: Die wollen mich nur weiter einspannen. Die Lernwiderstände lösen sich nur auf, wenn sich in weiterer Arbeitstätigkeit biografische Perspektiven für die einzelnen öffnen. Weiterbildung mit älteren Beschäftigten braucht also weniger eine »altengerechte« Didaktik, sondern ein Verbinden von Lernstrategien und Arbeitsperspektiven.


5. Flexible Zeitstrukturen: kollektive Regeln und individuelle Inanspruchnahme

Unter physischen und psychischen Aspekten gibt es – wissenschaftlich begründet – keine feste Grenze für das Ausscheiden aus der Erwerbstätigkeit. Wie alle temporalen Strukturen beruht eine festgelegte Altersgrenze beim Übergang von Erwerbstätigkeit in Rente auf gesellschaftlichen Konventionen und politischen Machtverhältnissen. Ruhestandsregelungen sollten vor allem den Anspruch auf ein menschenwürdiges Alter sichern. Sie sollen die Möglichkeit liefern, wenn man müde wird, ausgebrannt, verzehrt ist, in Muße weiterzuleben und sich anderen sinnvollen Tätigkeiten zu widmen. Doch viele Beschäftigte erhalten diese Chance gar nicht mehr. Schon in der Altersgruppe zwischen 45 und 65 werden sie durch die Belastungen am Arbeitsplatz und im Betrieb krank und scheiden aus dem Erwerbsleben aus.

Die »normale« Altersrente nach langjähriger Versicherung erreicht nur ein kleiner Teil der Beschäftigten (Siegrist/Dragano 2007; www.boecklerimpulse.de). Weitverbreitete Leiden, die auch den größten Teil der Frühverrentungen verursachen, sind Muskel- und Skeletterkrankungen, Herz-Kreislauf- und Stoffwechselleiden sowie psychische Störungen, etwa Depressionen, aber auch Schizophrenie.

Körperliche Belastungen: Lärm, zwanghafte Körperhaltungen, Kontakt mit Gefahrstoffen sind weitverbreitet. Auch Computerarbeit belastet durch ständig sich wiederholende Bewegungen oder durch Bewegungsmangel.

Schichtarbeit: In der EU arbeiten von der Altersgruppe ab 55 10% in Schichtsystemen. Knapp 6% der deutschen Beschäftigten müssen sich mit Mehrschicht- und Nachtarbeit zufrieden geben. Siegrist und Dragano (2007) referieren vier Studien, die für Beschäftigte in Wechselschichtsystemen ein erhöhtes Risiko von Herz-Kreislauf-Krankheiten nachweisen. Es liegt zwischen 30 und 180% höher als bei Beschäftigten mit Normalarbeitszeit.

Psychosoziale Arbeitsbelastungen: Auf der Basis deutscher und europäischer Untersuchungen gehen Siegrist und Dragano davon aus, dass im Schnitt etwa 20% der Beschäftigten psychosozial belastet sind – mit deutlich höheren Werten in Branchen wie der Land- und Forstwirtschaft, der Metallerzeugung, dem Kraftfahrzeughandel oder bei personenbezogenen Dienstleistungen, etwa im Gesundheitswesen. Würde dem Dauerstress im Arbeitsleben konsequent vorgebeugt, könnten theoretisch etwa ein Viertel der bei Erwerbstätigen auftretenden Depressionen und etwa ein Fünftel aller koronaren Herzkrankheiten vermieden werden. »Um Gesundheit und Arbeitsfähigkeit älterer Beschäftigter in möglichst großem Umfang bis zum Erreichen der Altersgrenze zu erhalten, sind weit reichende Investitionen in gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen erforderlich über das herkömmliche Spektrum von Arbeitsschutzbestimmungen und betrieblicher Gesundheitsförderung hinaus« (Siegrist/Dragano 2007). Und weiter heißt es bei Siegrist und Dragano: »Erste betriebswirtschaftliche Analysen zeigen, dass der mittel- bis langfristige ›return on investment‹ einer konsequenten betrieblichen Gesundheitspolitik beträchtlich zu sein scheint.« (ebd.)

Die direkten volks- und betriebswirtschaftlichen Kosten von Frühverrentungen, die durch berufliche Gesundheitsgefahren und Arbeitsbelastungen hervorgerufen werden, sind sehr hoch. Die darüber hinausreichenden Folgekosten für die Rentenversicherung – unter anderem durch entgangene Beitragszahlungen und Effekte auf die Altersrente – lassen sich jährlich mit mindestens 2,8 Milliarden Euro ansetzen. Hinzu kommen indirekte Kosten wie zum Beispiel entgangene Arbeitseinkommen. Das deutsche Sozialbudget wies 2003 rund 20,4 Milliarden Euro für gesundheitsbedingte Frührenten aus.

Um also die »Rente mit 67« vernünftig diskutieren zu können, müssen parallele Maßnahmen mit in Gang gesetzt werden. Dies betrifft vor allem eine persönlichkeitsförderliche Arbeitsplatzgestaltung und die dafür angebrachte Erhaltung und Entwicklung der Kompetenzen der Beschäftigten. Wer nur über Erwerbszeitverlängerung diskutiert, setzt sich dem Verdacht aus, allein an die Entlastung der Rentenkassen zu denken, und Druck auf die Beschäftigten auszuüben. Es wird davon ausgegangen, dass Möglichkeiten des frühzeitigen Ausstiegs die geringe Erwerbsbeteiligung fördern. Dies gilt, wenn keine angemessenen Beschäftigungsmöglichkeiten vorgehalten werden. In diesem zynischen Kalkül hat die Kürzung des Arbeitslosengeldes positive Beschäftigungseffekte. Unterstellt wird ein Menschenbild, in dem die Älteren faul sind und durch Mittelkürzungen zu ihrem Glück gezwungen werden müssen. Es erleichtert zusätzlich den Unternehmen, im Zuge von Restrukturierungsmaßnahmen Entlassungen von Älteren als »sozialverträglich« darzustellen. Das in der Agenda 2010 festgezurrte System von sanktionierenden Regularien und Flexibilisierungsstrategien individualisiert aber die Risiken drohender Altersarmut und Arbeitslosigkeit (Aust/Kremer 2007). Fordern heißt hier Strafen.

Demgegenüber ist eine langfristig angelegte, umfassende Arbeitsund Zeitpolitik angesagt. Es stellt sich ein doppelt-doppeltes Zentralproblem: Einerseits verringert sich durch die Entwicklung der Demografie der Umfang der Gesamtbevölkerung in Deutschland und gleichzeitig verschiebt sich seine Struktur durch das Drehen der Alterspyramide. Andererseits macht die Entwicklung der Technologie es möglich, dass immer mehr Erwerbsarbeitsplätze wegfallen, zugleich erhöht sich der Grad der Gestaltbarkeit der Arbeitstätigkeiten durch die steigende Flexibilität der technischen Systeme.

Die Herausforderung besteht darin, die Erwerbsarbeitszeit insgesamt zu verkürzen und sie anders auf die gesamte Erwerbsbevölkerung zu verteilen und für die einzelnen Beschäftigten im Lebenslauf zu verschieben und auszudehnen. Angesichts dieser Riesenaufgabe drohen viele Debatten sich an negativen Teillösungen aufzuhalten. Auch wenn nicht alles auf einmal lösbar ist, kommt es aber darauf an, den Horizont zu sehen und die Perspektive zu behalten (vgl. Rossmann und Bayer/Heymann in diesem Band). Allerdings ist vorab vor einer vollständigen Flexibilität zu warnen: Es bedarf, um ein Wegrutschen der sozialen Sicherung zu verhindern, eines kollektiv gesicherten, gesetzlich fixierten Rahmens, innerhalb dessen die individuellen Spielräume erhöht werden sollten. Entsprechend gehen die Beschlüsse der Gewerkschaften in diese Richtung (vgl. Bayer/Heymann in diesem Band).

Dies gilt selbstverständlich auch für Weiterbildungsansätze für Ältere, die bleibend aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Hier gilt es, weitere, nicht erwerbsbezogene Arbeits- und Lebensperspektiven auszuloten.


Quelle:
Peter Faulstich/ Mechthild Bayer (Hrsg.)
Lernalter
Weiterbildung statt Altersarmut

VSA Verlag Hamburg 2007

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors

Das Buch können sie auf der Homepage des VSA Verlags bestellen.


Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 13.02.2008

Quelle: www.netzwerk-weiterbildung.info
Druckdatum: 28.03.2024