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Vertrauen ist das Zauberwort des Deutschen Qualifikationsrahmens

Statement von Regina Görner, IG Metall Vorstandsmitglied:

"Gewerkschaften vertreten die Interessen von Arbeitnehmern und zu diesen Interessen gehört zwingend, die eigene Arbeitskraft möglichst gut vermarkten zu können. Nicht erst in der Wissensgesellschaft sind freie Zugänge zu Qualifizierung dafür von entscheidender Bedeutung. Aber es geht nicht nur um Qualifikation: Muß sie auch belegen können. Allgemein anerkannte Nachweise erworbener Qualifikation sind deshalb in den letzten Jahren immer wichtiger geworden.

Was Hänschen nicht gelernt hatte, bleibt Hans heutzutage keineswegs zu lernen erspart. Im Gegenteil: Nicht nur Veränderungen an den Arbeitsplätzen machen es notwendig, Qualifikation nicht nur zu erwerben, sondern mit Blick auf Vergütung und Aufstieg auch nachweisen zu können. auch die Erfordernis für immer mehr Beschäftigte, sich oft kurzfristig um neue Arbeitsplätze und sogar andere Berufstätigkeiten bewerben zu müssen, ist inzwischen Alltagserfahrung der ArbeitnehmerInnen in Europa geworden. Ein klares Bewertungssystem für Kompetenzen - formal, nicht formal oder auch informell erworben - ist deshalb heute wichtiger denn je.

Das deutsche Qualifikationssystem setzt auf schulische und akademische Bildungsgänge einerseits, andererseits aber auch auf sowohl betrieblich als auch schulisch absolvierte Ausbildungen - also das duale Berufsbildungssystem mit seinen Fort- und Weiterbildungsstrukturen. Dieses System ist in Europa nicht generell vorhanden, auch wenn wir gerade in der letzten Zeit - nicht zuletzt auch in der Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise! - ein international wachsendes Interesse an dieser öffentlich/betrieblichen Mischform beruflicher Qualifikation feststellen können. Die kürzlich vom BMBF mit der OECD durchgeführte Konferenz in Leipzig war dafür ein offenkundiger Beleg.

Unsere bisherige Erfahrung war, dass in Europa diejenigen den Ton angegeben haben, die über solche betrieblich fundierten Qualifikationssysteme nicht oder nur in sehr geringem Ausmaß verfügten. Folglich war höhere berufliche Qualifikation in diesen Zusammenhängen immer selbstverständlich mit Hochschulstudium verknüpft, da alternative Möglichkeiten in vielen europäischen Ländern gar nicht zu Verfügung standen. Dies führte dazu, dass die deutschen Abschlüsse in ihrer Wertigkeit international nicht anerkannt wurden, obwohl sie in der Praxis unendlich oft ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt hatten.

Deutsche Zertifikate, die im Zusammenhang mit betrieblichem Lernen erworben worden waren, wurden nicht zuletzt deshalb im Ausland schlecht bewertet, weil aus den beruflichen Erstausbildungen in den Betrieben so gut wie keinerlei Zugangsmöglichkeiten zum Hochschulstudium abgeleitet werden konnten. „Wenn man damit kein Studium aufnehmen kann, kann das ja keine ordentliche Qualifikation sein" - dieser Argumentation sind Vertreter der deutschen und vergleichbarer Berufsbildungssysteme auf internationaler Ebene immer wieder begegnet. Das hat die Verwertungsmöglichkeiten der deutschen beruflichen Bildungsabschlüsse in internationalen Zusammenhängen massiv beeinträchtigt - was man hätte hinnehmen können und müssen, wenn tatsächlich fachliche Defizite damit verbunden gewesen wären. Die Spezialisten wissen aber sehr gut, dass das, was in Deutschland in der Vergangenheit nicht zum Studium berechtigte, oft mehr beinhaltete als ein entsprechendes Studium im Ausland.

Ein Vergleichsraster, das solche Zusammenhänge aufdeckt und in der Folge die Verwertungsmöglichkeiten für deutsche Abschlüsse verbessert, kann daher nur im Interesse von Gewerkschaften liegen. Wir haben diesen Prozeß folglich nicht nur begleitet, sondern auch massiv vorangetrieben.

Diese Erwartungen müssen nun aber auch in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Die bishergen Erfahrungen mit dem Prozeß sind zwiespältig:

Einerseits ist es nur zu begrüssen, dass es beim DQR gelungen ist, ein einheitliches Qualifikationsraster für allgemeine und berufliche Bildung zu schaffen. Es sind Deskriptoren für die Zuordnung entwickelt worden, die sowohl für die schulisch/universitären als auch für die betrieblich-schulischen bzw. betrieblich-unversitäten oder auch rein betrieblichen Qualifizierungsformen verwandt werden können. Das ist ein deutlicher Fortschritt, den Gewerkschaften nur begrüssen können.

Er kann im übrigen eine Grundlage sein für die Lösung eines Problem, das wir im Bereich der beruflichen Weiterbildung bisher nicht vernünftig bewältigen konnten: Wir haben einen unübersichtlichen Dschungel verschiedenartigster Qualifikations"blüten", deren Wertigkeit von den qualifikations-"bereiten" Beschäftigten nicht wirklich beurteilt werden kann. Und die Vielfalt der außerordentlich blumigen Zertifikate gibt auf der anderen Seite aber auch den Anwendern, also den Betrieben, keine Chance zu wissen, was sie sich da einkaufen.

Die Anwendung des DQR könnte hier die dringend überfällige Standardisierung vorantreiben - und damit übrigens auch einen Beitrag zur Entbürokratisierung und Verringerung der Aufwände in den Unternehmen leisten. Das können wir aus Arbeitnehmerperspektive nur begrüssen, und mein Eindruck ist, dass inzwischen auch viele Unternehmen auf Knien dankbar dafür wären, wenn wir den Dschungel der Abschlüsse so weit lichten könnten, dass sie in den Personalabteilungen auch handhabbar wären. Das höre ich bei Betriebsbesuchen inzwischen immer häufiger.

Dazu gehört auch die Möglichkeit, informelle und non-formale Qualifikationsformen in Zusammenhang mit den formalen setzen zu können. Das ist bisher zwar eine gern erhobene Forderung in Sonntagsreden, aber leider weit entfernt von praktikablen und alltagstauglichen Umsetzungen. Auch das könnte Verwertbarkeit von Qualifikation aus Arbeitnehmersicht erhöhen - und das gilt nicht zuletzt für unsere KollegInnen in den Ländern, die nur über schwach ausgebildete formale Strukturen der beruflichen Bildung verfügen. Es ist aber auch für uns in Deutschland relevant, z.B. beio der derzeit heiss diskutierten Frage der Zulassung ausländischer Fachkräfte.

Leider sind im Prozeß massiv retardierende Elemente aber auch nicht verborgen geblieben. Da ist zunächst die Frage des Verhältnisses von hochschulischen und betrieblich/beruflichen Aufstiegsfortbildungen. Das war ja heftig umkämpft. Hier zeichnet sich nach der erfolgten Definition der Niveaus 6, 7 und 8 jedoch eine sinnvolle Lösung ab.

Nach wie vor ungeklärt ist die Frage, ob die Hochschulreife nur über das Abitur erworben werden kann, oder ob auch eine vollqualifizierende Ausbildung im dualen System generell den Zugang mindestens zur fachgebundenen Hochschulreife vermittelt oder nicht.

Ich habe, ehrlich gesagt, kein Verständnis für die Argumentationsweise der KMK und einiger Hochschulen in diesem Zusammenhang. Das mangelnde Zutrauen in die Studierfähigkeit von Absolventen der beruflichen Bildung kann meines Erachtens nur mit der Unkenntnis in Kultusministerien und Universitäten darüber zusammenhängen, was in modernen Berufsausbildungen an Kompetenzen vermittelt und erworben wird.

Und ich frage mich, was eigentlich die ca. 100.000 jungen Leute jährlich, die mit Abitur in eine betriebliche Berufsausbildung gehen, davon halten werden, dass sie nach dem Abi auf Stufe 5 rangieren, nach dreieinhalb Jahre qualifizierter Berufsausbildung dann aber auf 4 landen sollen. Das ist doch überhaupt nicht zu vermitteln!

Als Gewerkschafterin bin ich nicht bereit, das zu akzeptieren, zumal die KMK doch selbst dankenswerterweise in den letzen 1, 2 Jahren wesentliche Initiativen ergriffen hat, um die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung zu verbessern. Und das ist auch dringend notwendig.

Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zu den aktuellen Debatten: Das, was derzeit als Fachkräftemangel beklagt wird, ist natürlich die Auswirkung der Kurzfristorientierung der Unternehmen im Zeitalter des Kasinokapitalismus, die nicht verstanden haben, dass Fachkraft - betrieblich wie akademisch qualifizierte! - Lieferzeiten hat. Unser Berufsbildungssystem setzt Entscheidungsstrukturen im Unternehmen voraus, die nicht nur die nächste Hauptversammlung, sondern die betriebliche Entwicklung in 5, 6 Jahren im Blick haben. Aber das ist leider selten geworden und ein Grund für den bevorstehenden Fachkräftemangel.

Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Denn nach wie vor viel gibt es zu viele Hürden, die vor qualifizierten Facharbeitern und Absolventen beruflicher Aufstiegsfortbildung beim Zugang zum Hochschulstudium aufgebaut werden, weil - und diese Provokation erlaube ich mir mit Blick auf die Lebendigkeit unserer Diskussion! - die Hochschulen nach wie vor eher von der Eliteauswahl her denken als von der möglichst systematischen Ausschöpfung der Qualifikations- und Begabungspotentiale in unserem Land. Ich glaube, dass unsere Gesellschaft sich diesen Luxus einfach nicht mehr leisten kann.

Einen abschließenden Punkt noch mit Blick auf die weitere Entwicklung: Entscheidungen, die in der Berufsbildung getroffen werden, haben in aller Regel langfristige, jahrzehntelange Auswirkungen. Insofern plädiere ich immer dafür, mit großer Sorgfalt vorzugehen und nicht jedes Jahr eine neue Sau durchs Dorf zu treiben. Das nützt weder den jungen oder älteren Beschäftigten noch den Betrieben, Universitäten oder sonstigen Bildungseinrichtungen.

Aber mit dem DQR betreten wir in einem gewissen Umfang Neuland. Ich möchte nicht, dass wir hier „Jungfrauenfehler" machen - also Entscheidungen treffen, die nie wieder korrigiert werden können.

Was wir hier auf den Weg bringen, soll jahrzehntelang Bestand haben. Wir müssen uns die Zeit nehmen, die Dinge sorgfältig zu evaluieren und ggf. zeitnah rückgängig zu machen oder zu verändern. Deshalb plädiere ich für Begleitung des Programms durch ein anspruchsvolles Forschungsprojekt, das uns davor bewahrt, Fehler zu machen, die den Menschen in diesem Land noch viele Probleme bereiten könnten. Hier sehe ich die Bundesregierung in der Pflicht!"


Quelle: WAP, Homepage der IG Metall

Schlagworte zu diesem Beitrag: Lebenslanges Lernen, Deutscher Qualifikationsrahmen
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 21.11.2010

Quelle: www.netzwerk-weiterbildung.info
Druckdatum: 19.03.2024