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Reichtum und Armut in Deutschland

Armut taugt nicht zum Aufreger

Die Deutschen haben sich an die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich gewöhnt. Wer fordert, über Reichtum und Bereicherung zu reden, handelt sich schnell den Vorwurf des Sozialneids ein. Für die Journalistin Dorothee Beck ist es angesichts dessen heute notwendiger denn je, die Verteilungsfrage neu zu stellen.

Anfang November veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW) aktuelle Daten zur Vermögensverteilung in Deutschland. Danach verfügen die zehn Prozent Reichsten über 60 Prozent des gesamten Vermögens. Zwei Drittel der Bevölkerung haben gar nichts oder nur wenig auf der hohen Kante. Einigen Medien war das eine Meldung wert, der DGB und einige Sozialverbände empörten sich, mehr nicht. In Deutschland öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter. Doch zum Aufreger taugt das kaum noch.

Die in der GdL organisierten Lokführer wollen mit ihrem Streik ein Anfangsgehalt von 2500 Euro brutto durchsetzen. Das entspricht einer Steigerung von bis zu 30 Prozent. Bahn-Chef Hartmut Mehdorn hält das für „irrwitzig“, ließ sich aber im vergangenen Jahr eine Verdoppelung seines eigenen Salärs absegnen. Ähnliche Verhältnisse bei der Deutschen Bank, wo die Vorstandsvergütungen binnen zehn Jahren um 600 Prozent gestiegen sind. Eine Gewerkschaft, die solches forderte, würde schlicht für verrückt erklärt.

Den von der SPD geforderten Postmindestlohn von 8 bis 9,80 Euro pro Stunde hat Bundeskanzlerin Angela Merkel Mitte November platzen lassen. Wenige Tage später erhöhten die Regierungsfraktionen in trauter Eintracht die Diäten von 7009 auf 7668 Euro.

Zehn Tage zuvor hatten sich die Chefklempner der großen Koalition, Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) und Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU), auf eine Reform der Erbschaftssteuer geeinigt, um betriebliche Erbschaften zu schonen. Doch das angeblich zugrunde liegende Problem existiert überhaupt nicht. Das Finanzministerium wie auch Hanns-Eberhard Schleyer, Chef des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, mussten zugeben: Bis heute habe kein Unternehmen wegen der Erbschaftssteuer Pleite gemacht.

All das geschah im Herbst 2007. Ein öffentlicher Aufschrei blieb aus. Einzig die Kinderarmut taugt heute noch zum Skandal. Der Kinderschutzbund prangerte Mitte November an, dass die Kinderarmut in den vergangenen Jahren förmlich explodiert ist. 1965 war jedes 75. Kind unter sieben Jahren zeitweilig von Sozialhilfe abhängig. Vierzig Jahre später ist es jedes sechste, obwohl immer weniger Kinder geboren werden. Eilfertig geloben PolitikerInnen jeder Couleur, sich mit ganzer Kraft gegen die Kinderarmut einsetzen zu wollen, drehen an dieser oder jener Stellschraube, tasten die finanzträchtigen Tabus aber nicht an: Das Ehegattensplitting, das keine bedürftigen Kinder fördert, wohl aber die Geldbörse alternder, alleinverdienender Politiker und Wirtschaftsbosse schont. Und die skandalöse Zweiteilung in Kindergeld für niedrige Einkommen und steuerlichem Kinderfreibetrag für hohe.

Wir haben uns an eine ganz eigenartige Variante des heute so beliebten Förderns und Forderns gewöhnt. Gefördert werden die Reichen durch Steuererleichterungen: Vermögenssteuer ausgesetzt, Unternehmenssteuer und Spitzensteuersatz gesenkt. Gefordert wird von den Armen: Renten gekürzt, Krankenversicherung beschnitten, Arbeitslosengeld II, Mehrwertsteuererhöhung, Studiengebühren.

Trotz dieser resignierten Gewöhnung müssen wir über Reichtum und Bereicherung reden, auch wenn wir uns damit den Vorwurf des Sozialneids einhandeln. Denn das Geld, das für ein existenzsicherndes Arbeitslosengeld oder eine Kindergrundsicherung im Staatssäckel fehlt, liegt in privaten Schatullen. Dort ist es weder naturwüchsig, noch als Ergebnis besonderer (unternehmerischer) Leistung hingekommen, sondern als Folge politischer Entscheidungen.

Es stünde dem DGB und den Gewerkschaften gut an, dieses Geld mutig und streitlustig zurückzufordern. Der scheidende Arbeitsminister Franz Müntefering hat dafür einen bedenkenswerten Anstoß geliefert: Wir brauchen nicht nur einen Mindestlohn, sondern auch einen Höchstlohn. Unternehmensführungen dürfen ihre Gehälter nicht stärker anheben als die Prozente, die sie ihren Beschäftigten zugestehen. Und Vorstandsvergütungen müssen faktorisiert werden: Bis in die 90er Jahre hinein lagen sie bei kaum mehr als dem 50-Fachen des Durchschnittslohns. Seien wir großzügig und gestehen ihnen das 100-Fache zu. Mehr braucht kein Mensch, auch Hartmut Mehdorn nicht!


Quelle: einblick 21/2007

Dorothee Beck/Hartmut Meine: Armut im Überfluss. Nachrichten aus einer gespaltenen Gesellschaft, Steidl Verlag, Göttingen 2007, 352 Seiten, 18 Euro


Schlagworte zu diesem Beitrag: Mindestlohn
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 14.04.2009

Quelle: www.netzwerk-weiterbildung.info
Druckdatum: 28.03.2024